Empfehlung vor dem Fest (23): Ulla Hahn über den Roman „Vor der Zunahme der Zeichen“ von Senthura Varatharajah, bei dem sich jede Minute Lesezeit lohnt

Im Advent kommen Gäste zu Wort! Persönlichkeiten, die der Buchwelt eng verbunden sind, präsentieren jeweils einen Titel, der ihnen besonders am Herzen liegt. Tag für Tag und exklusiv auf dem Bücheratlas – bis kurz vorm Tannenbaum.

Ulla Hahn wurde im Sauerland geboren, wuchs in Monheim am Rhein auf und lebt heute in Hamburg. Ihre ersten Gedichte veröffentlichte sie in den 70er Jahren. Der Debütband „Herz über Kopf“ (1981) wurde gleich ein Bestseller. Seit langem schon gilt sie als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen im deutschsprachigen Raum. Später kamen Romane hinzu – zumal ein autobiographisch grundierter Romanzyklus, den sie 2001 mit „Das verborgene Wort“ eröffnet hat. In Monheim ist in ihrem ehemaligen Elternhaus das Ulla-Hahn-Haus eingerichtet worden, das an die Autorin erinnert und als Literaturhaus genutzt wird. Foto: Julia Braun

Zwei Migranten, der Mann ein Tamile aus Sri Lanka, die Frau eine Albanerin aus dem Kosovo, stoßen auf Facebook zufällig aufeinander und beginnen zu chatten. Sieben Tage lang erzählen sie von ihrem Leben. Zwei Stimmen, zwei Klangfarben, zwei Sprachebenen. Einblicke in herzzerreißende Biografien: Kriegsschicksale? Flüchtlingsschicksale? Integrationsprobleme? Ja. Aber wie!

„Die Sprache ist das Haus des Seins“, so Martin Heidegger. Was bedeutet es, wenn dieses Haus verlassen werden muss, wenn der Satz Wittgensteins „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ außer Kraft gesetzt werden muss, um zu überleben.

Da sagt die albanische Studentin: „Ich hatte begonnen, meinen Eltern nur noch auf Deutsch zu antworten, und sie sagten, ne ket shepti flitet shqip, und sie sagten, in diesem Haus wird Albanisch gesprochen. Die Hände meines Vaters … sahen aus wie ausgegrabene Wurzeln … Ich wollte weg von meinen Eltern, von dieser Sprache und von meinem Namen …“ Sie flieht zu einer Freundin. „Oben in ihrem Zimmer habe ich ihr nur meinen Rücken und die Striemen darauf gezeigt …. den die Gürtelschnalle (des Vaters) darauf hinterlassen hatte.“ – „Mein Vater sagt, ich würde unsere Sprache verraten … Mein Vater glaubt, immer, wenn ich KosovO statt KosovA sage, würde ich den serbischen Anspruch auf das Land wiederholen.“

Daraufhin berichtet der Student, der sich mit seinem tamilischen Onkel auf Deutsch über Gott unterhalten wollte, dieser habe geantwortet, „er solle erst seine Muttersprache lernen, bevor ich mit ihm über einen falschen Gott spreche.“ Und: „… er ging zu meinem Vater und sagte, deine Kinder sind das Ende unserer Sprache. Er sagte, deine Kinder sind schuld daran, dass unsere Sprache aussterben und vergessen sein wird. Er sagte, deine Kinder sind die Rache an unserer Sprache.“

 „Wes das Herz voll ist, dem läuft der Mund über“, so Martin Luther. Der Autor Senthura Varatharajah hat sein Herz vorbehaltlos der deutschen Sprache geöffnet, und der Mund, der davon spricht, was es heißt und was es kostet, ein neues „Haus des Seins“ zu erobern, tut das in einer einzigartig poetischen, wirklichkeits- und erfahrungsgesättigten Sprache, um die ihn mancher deutsche Muttersprachler beneiden könnte.

„Vor der Zunahme der Zeichen“ ist ein Roman über die mannigfachen Möglichkeiten der Sprache und ihre Grenzen, von Spracherwerb und Sprachverlust, ein Roman, in dem die Rolle der Sprache das Schicksal der Protagonisten entscheidend prägt, und das alles wird zur Sprache gebracht ganz ohne akademische Attitüde. „Vor der Zunahme der Zeichen“ ist ein Geschenk an die deutsche Sprache. Gerade weil die deutsche Sprache für den Autor keine Selbstverständlichkeit, nicht Muttersprache ist, gewinnt sie an Fülle, Farbe, Unbefangenheit, als gewännen die Wörter ihre Unschuld, ihre Kindheit und Jugend zurück. Sprache wird mittels Sprache sinnlich erfahrbar (etwa das Wort „Mutter“ in Tamil. S.52).

Von Seite zu Seite wuchs meine Freude, einen solchen Mitbewohner in unserem „Haus des Seins“ kennenlernen zu dürfen. Komponiert ist der Roman wie ein langes Prosagedicht: denkendes Dichten. Daher braucht das Buch LeserInnen, die willens sind, sich mit dem Text aus-ein-an-der zu setzen. Es lohnt jede Minute Lesezeit. Man möchte den fiktiven Figuren, der deutschen Studentin mit albanischen Wurzeln und dem deutschen Studenten mit tamilischen Wurzeln, der wohl autobiografische Züge des Autors trägt, am liebsten heute noch begegnen.

Ulla Hahn

Senthura Varatharajah: „Vor der Zunahme der Zeichen“, S. Fischer, 256 Seiten, 19,99 Euro (Taschenbuch: 12 Euro). E-Book: 9,99 Euro.


Auf diesem Blog findet sich ein Beitrag über das Ulla-Hahn-Haus in Monheim am Rhein (mit Hilla Leseschuppen) – und zwar HIER .

Ein Interview mit Ulla Hahn, das Petra Pluwatsch für den „Kölner Stadt-Anzeiger“ geführt hat, findet sich HIER : „Das Schreiben ist eine Befreiung“. Dort ist auch eine Besprechung des Romans „Wir werden erwartet“, mit dem der Hilla-Palm-Zyklus endet, veröffentlicht worden – und HIER ist der Link.

  • Was bisher geschah

    Die 1. Empfehlung: Rafik Schami über „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“ von Franz Hohler – HIER .

    Die 2. Empfehlung: Antje Deistler über „Nach vorn, nach Süden“ von Sarah Jäger – HIER .

    Die 3. Empfehlung: Mark Benecke über „The complete MAUS“ von Art Spiegelman – HIER .

    Die 4. Empfehlung: Nina George über „Ich bin Circe“ von Madeline Miller, „Ein Gentleman in Moskau“ von Amor Towles, „Der Wal und das Ende der Welt“ von John Ironmonger, „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens und „Offene See“ von Benjamin Myers – HIER .

    Die 5. Empfehlung: Klaus Bittner über „Die Schlange im Wolfspelz“ von Michael Maar – HIER .

    Die 6. Empfehlung: Monika Helfer über „Rohstoff“ von Jörg Fauser – HIER .

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    Die 8. Empfehlung: Werner Köhler über „Beatlebone“ von Kevin Barry – HIER .

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    Die 10. Empfehlung: Bettina Fischer über „Die Dame mit der bemalten Hand“  von Christine Wunnicke – HIER .

    Die 11. Empfehlung: Cay Rademacher über „Das Rätsel von Zimmer 622“ von Joel Dicker – HIER

    Die 12. Empfehlung (I): Ingrid Noll über „Abschiedsfarben“ von Bernhard Schlink – HIER  .

    Noch eine 12. Empfehlung (II): Mike Altwicker über „Verdächtige Geliebte“ von Keigo Higashino – HIER.

    Die 13. Empfehlung: T. Coraghessan Boyle über „Der Tod in ihren Händen“ von Ottessa Moshfegh – HIER .

    Die 14. Empfehlung: Ursula Gräfe über „Paul Celan und der chinesische Engel“ von Yoko Tawada – HIER .

    Die 15. Empfehlung: Kristof Magnusson über „Vogelpark von Tobias Schwartz – HIER .

    Die 16. Empfehlung: Agnieszka Lessmann über „Die essbare Frau“ von Margaret Atwood, „Rabenschwarze Intelligenz“ von Josef H. Reichholf, „Das Buch der Dörfer“ von Hans Thill und „Ein morsches Licht“ von Anke Glasmacher – HIER .

    Die 17. Empfehlung: Anne Burgmer über „Die Optimisten“ von Rebecca Makkai – HIER .

    Die 18. Empfehlung: Gudrun Fähndrich über „Spiegel und Licht“ von Hilary Mantel – HIER .

    Die 19. Empfehlung (I): Frank Olbert über „Fluchtzustand“ von Agnieszka Lessmann und „Der Garten der verlorenen Seelen“ von Nadifa Mohamed – HIER .

    Noch eine 19. Empfehlung (II): Romy Hausmann über „Hitze“ von Victor Jestin – HIER .

    Die 20. Empfehlung: Friedrich Ani über „Ich will doch immer nur kriegen, was ich haben will“ von Franz Dobler –  HIER .

    Die 21. Empfehlung: Julia Giordano über „Die Optimisten“ von Rebecca Makkai, Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ in einer illustrierten Neuübersetzung und „Geh weg, du Problem!“ von Rachel Rooney und Zehra Hicks – HIER .

    Die 22. Empfehlung: Gunther Geltinger über „Johanns Bruder“ von Stephan Lohse – HIER .

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