Empfehlung vor dem Fest (24): Michael Köhlmeier über „Das doppelte Lottchen“ von Erich Kästner, dem „Dostojewski der Kinderseele“

Im Advent kommen unsere Gäste zu Wort! Persönlichkeiten, die der Buchwelt eng verbunden sind, präsentieren Titel, die ihnen besonders am Herzen liegen. Mal sind es Neuerscheinungen, mal sind es Klassiker. Tag für Tag und exklusiv – bis zum heutigen 24. Dezember 2020. Dafür danken wir sehr. Mit Michael Köhlmeier beschließen wir den Reigen der Empfehlungen.

Allen Leserinnen und Lesern des „Bücheratlas“ wünschen wir frohe Festtage und jede Menge Zuversicht, Martin Oehlen und Petra Pluwatsch

Michael Köhlmeier, 1949 in Hard in Vorarlberg geboren und in Hohenems lebend, hat ein umfangreiches Werk veröffentlicht. Dazu zählen neben den Romanen auch Hörspiele, Drehbücher, Dramen, Gedichte und Liedtexte. Die Aufnahmen mit seinen Liedern im Vorarlberger Dialekt sind fast noch ein Geheimtipp. Sehr erfolgreich sind auch die Nacherzählungen von Sagen und Märchen. Seine politischen Einwürfe finden zumal in Österreich große Beachtung – so die „Rede gegen das Vergessen“ im österreichischen Parlament im Jahre 2018: „Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle.“ Michael Köhlmeier hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Er ist verheiratet mit der Schriftstellerin Monika Helfer. Foto: Peter-Andreas Hassiepen / Hanser

Wenn ein Buch auf einer Idee beruht, dann ist Vorsicht geboten – dies ist vor allem an den Autor gerichtet. Vorsicht deshalb, weil die Gefahr besteht, dass die Personen allein auf diese eine Idee ausgerichtet werden. Es gibt dafür genügend Beispiele, dort haben wir es mit Pappkameraden zu tun. So interessant eine Idee auch sein mag, wenn die Personen nicht aus Fleisch und Blut sind, wie man sagt, wenn sie nichts weiter sind als die Träger einer Idee, eines Themas, dann ist alles für die Katz, wie man sagt. „Das doppelte Lottchen“ wird zwar aus einer Idee heraus erzählt, aber Erich Kästner ist eben ein großer Autor; er liebt seine Figuren und würde sie nie einer Idee opfern.

Die Idee ist: Was geschieht mit Kindern, wenn sich die Eltern scheiden lassen – und um den Konflikt noch zu verschärfen: Was, wenn die Kinder Zwillinge sind? Was, wenn das eine Kind zur Mutter, das andere zum Vater kommt. Und zuletzt: Was, wenn die Kinder nichts voneinander wissen.

Luise Palfy in Wien, Lotte Körner in München; die Luise eine Aufgeweckte, fast ein bisschen Vorlaute, die Lotte eine Stille, fast ein bisschen Grüblerische. Der Zufall – die Idee – will es, dass die beiden im Sommer dasselbe Ferienlager besuchen und einander dort kennenlernen. Nach anfänglichem Staunen, auch dem Staunen der anderen Kinder, weil sie sich so ähnlich sehen, befreunden sich die beiden. Wer den alten Schwarz-weiß-Film gesehen hat, zu dem Erich Kästner – übrigens noch vor dem Roman – das Drehbuch schrieb und auch den Erzähler gibt, der wird sich an den Schauder erinnern, der ihn durchrieselt hat, als die beiden in dem Landgasthaus sitzen und erzählend allmählich draufkommen, wer sie sind. „Und wo bist du geboren?“ „In Linz an der Donau.“ „Ich auch. Und wann?“ Es ist die Stelle im Buch, die mich am meisten berührt hat. Nun planen die beiden, ihre Eltern zusammenzubringen. Sie vertauschen sich. Luise geht nach München zur Mutter, die sie ja gar nicht kennt, Lotte nach Wien zum Vater, den sie nicht kennt. Zuvor lernen jede das Leben der anderen auswendig, um so gut wie möglich die andere zu spielen. Ganz gelingt es ihnen nicht. Der Vater, ein erfolgreicher Komponist, wundert sich, wie ernst sein „Luischen“ über den Sommer geworden ist; die Mutter in München freut sich, dass ihr „Lottchen“ so viel Fröhlichkeit und Leichtheit über den Sommer gewonnen hat. Ob es den beiden gelingt, ihre Eltern wieder zusammenzubringen?

Erich Kästner hat sich schon in seinen anderen Kinderbüchern – „Pünktchen und Anton“, „Emil und die Detektive“, „Das fliegende Klassenzimmer“ – als ein Experte der kindlichen Seele ausgewiesen, ich will ihn den Dostojewski der Kinderseele nennen. Deshalb: Er unterscheidet nicht zwischen Erwachsenen und Kindern, es gibt kein Besserwissen einen knappen halben Meter über den Augen eines Kindes. Darum wäre es falsch, Kästners Kinderromane als „Kinderliteratur“ abzutun, was ja immer etwas Abwertendes hat. „Das doppelte Lottchen“ ist im goetheschen Sinn „Weltliteratur“.

Michael Köhlmeier

Erich Kästner: „Das doppelte Lottchen“, illustriert von Walter Trier, Atrium, 176 Seiten, 14 Euro. E-Book: 10.99 Euro.


Auf diesem Blog finden sich zahlreiche Beiträge zum Schaffen von Michael Köhlmeier, die sich leicht über die Suchmaske finden lassen. Darunter ist auch ein Beitrag über seine große Märchen-Sammlung – und zwar HIER.

  • Was bisher geschah

    Die 1. Empfehlung: Rafik Schami über „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“ von Franz Hohler – HIER .

    Die 2. Empfehlung: Antje Deistler über „Nach vorn, nach Süden“ von Sarah Jäger – HIER .

    Die 3. Empfehlung: Mark Benecke über „The complete MAUS“ von Art Spiegelman – HIER .

    Die 4. Empfehlung: Nina George über „Ich bin Circe“ von Madeline Miller, „Ein Gentleman in Moskau“ von Amor Towles, „Der Wal und das Ende der Welt“ von John Ironmonger, „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens und „Offene See“ von Benjamin Myers – HIER .

    Die 5. Empfehlung: Klaus Bittner über „Die Schlange im Wolfspelz“ von Michael Maar – HIER .

    Die 6. Empfehlung: Monika Helfer über „Rohstoff“ von Jörg Fauser – HIER .

    Die 7. Empfehlung: Horst Eckert über „Late Show“ von Michael Connelly – HIER .

    Die 8. Empfehlung: Werner Köhler über „Beatlebone“ von Kevin Barry – HIER .

    Die 9. Empfehlung: Marie Claire Lukas über das Magazin „Spring # 17 – Gespenster“ und „Accidentally Wes Anderson“ von Wally Koval – HIER  .

    Die 10. Empfehlung: Bettina Fischer über „Die Dame mit der bemalten Hand“  von Christine Wunnicke – HIER .

    Die 11. Empfehlung: Cay Rademacher über „Das Rätsel von Zimmer 622“ von Joel Dicker – HIER

    Die 12. Empfehlung (I): Ingrid Noll über „Abschiedsfarben“ von Bernhard Schlink – HIER  .

    Noch eine 12. Empfehlung (II): Mike Altwicker über „Verdächtige Geliebte“ von Keigo Higashino – HIER.

    Die 13. Empfehlung: T. Coraghessan Boyle über „Der Tod in ihren Händen“ von Ottessa Moshfegh – HIER .

    Die 14. Empfehlung: Ursula Gräfe über „Paul Celan und der chinesische Engel“ von Yoko Tawada – HIER .

    Die 15. Empfehlung: Kristof Magnusson über „Vogelpark von Tobias Schwartz – HIER .

    Die 16. Empfehlung: Agnieszka Lessmann über „Die essbare Frau“ von Margaret Atwood, „Rabenschwarze Intelligenz“ von Josef H. Reichholf, „Das Buch der Dörfer“ von Hans Thill und „Ein morsches Licht“ von Anke Glasmacher – HIER .

    Die 17. Empfehlung: Anne Burgmer über „Die Optimisten“ von Rebecca Makkai – HIER .

    Die 18. Empfehlung: Gudrun Fähndrich über „Spiegel und Licht“ von Hilary Mantel – HIER .

    Die 19. Empfehlung (I): Frank Olbert über „Fluchtzustand“ von Agnieszka Lessmann und „Der Garten der verlorenen Seelen“ von Nadifa Mohamed – HIER .

    Noch eine 19. Empfehlung (II): Romy Hausmann über „Hitze“ von Victor Jestin – HIER .

    Die 20. Empfehlung: Friedrich Ani über „Ich will doch immer nur kriegen, was ich haben will“ von Franz Dobler –  HIER .

    Die 21. Empfehlung: Julia Giordano über „Die Optimisten“ von Rebecca Makkai, Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ in einer illustrierten Neuübersetzung und „Geh weg, du Problem!“ von Rachel Rooney und Zehra Hicks – HIER .

    Die 22. Empfehlung: Gunther Geltinger über „Johanns Bruder“ von Stephan Lohse – HIER .

    Die 23. Empfehlung: Ulla Hahn über „Vor der Zunahme der Zeichen“ von Senthura Varatharajah – HIER .

4 Gedanken zu “Empfehlung vor dem Fest (24): Michael Köhlmeier über „Das doppelte Lottchen“ von Erich Kästner, dem „Dostojewski der Kinderseele“

  1. Erich Kästner als mein Lieblingsautor und die Empfehlung eines meiner Allzeit-Lieblingsbücher am Heiligabend! Das ist ein wunderbares, digitales Weihnachtsgeschenk, das mich bereits am Morgen des Heiligabends fröhlich stimmt. Herzlichen Dank für diesen schönen, literarischen Adventskalender, der für mich heute noch mit einem sehr persönlichen Glanzlicht geendet hat. Herzliche Weihnachtsgrüße! Barbara (alias Kulturbowle)

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