Gastautorinnen und Gastautoren präsentieren im Dezember 2020 Bücher, die ihnen besonders am Herzen liegen. Mal sind es Neuerscheinungen, mal sind es Klassiker. Tag für Tag und exklusiv auf dem „Bücheratlas“ – bis kurz vorm Tannenbaum.

Vier Bücher an drei Orten liegen bei mir zum Lesen bereit: Eine anregende, hintergründige, komische oder auch einfach nur spannende Geschichte neben dem Bett, ein informatives Sachbuch neben dem Wohnzimmersessel für die klaren Nachmittagsstunden und dann noch besondere Bücher für die Zwischenzeiten, die ich ablege, wo ich mich gerade befinde und mehr oder weniger zufällig wiederentdecke, wenn mal wieder der richtige Moment dafür gekommen ist.
Vier Empfehlungen habe ich also.
1. Die Lust auf Geschichten hat mich im vergehenden Jahr vor allem zu Margaret Atwood geführt. Von ihren vielen wunderbar klugen und ebenso von genauer Beobachtung wie feinsinnigem Humor geprägten Büchern möchte ich hier „Die essbare Frau“ empfehlen, ihr Romandebüt aus dem Jahr 1969. Atwoods Schilderung der Erfahrungen einer Uniabsolventin im patriarchalen Berufs- und Sexleben sind scharfsinnig, komisch und ihrer Zeit weit voraus. Die Qual der Wahl zwischen Karrierist und Softie treibt die Protagonistin zu einer überraschenden Konsequenz und der Leserin Tränen in die Augen – vor Lachen und schmerzlicher Erkenntnis zugleich.
2. Tommy heißt einer der Protagonisten, die mir in den letzten Monaten besonders ans Herz gewachsen sind. Ein wahrer Unglücksvogel, dem alle möglichen schlechten Eigenschaften angedichtet werden, entpuppt sich als erstaunlich pfiffiger Kerl. Eine perfekte Romanfigur also, aber Tommy ist nicht erfunden und er ist kein Kerl, sondern tatsächlich ein Vogel, eine Rabenkrähe, die aus dem Nest fiel und von Josef H. Reichholf großgezogen wurde.
Von ihm handelt eine der vielen interessanten Geschichten, mit denen der Zoologe und Biologe die Welt der Rabenvögel schildert. Tommy lebte auf dem Land, und da er die Farbe Schwarz und das Verstecken liebte, interessierte er sich besonders für den Briefträger und die Dinger, die er aus seiner großen schwarzen Tasche holte, um sie in die schmalen Schlitze an den Häusern zu stecken. So hatte der Mann, wenn er in Reichholfs Straße kam, immer einen über ihm kreisenden Begleiter. „Zitternd vor Aufregung“ verfolgte Tommy ihn und bettelte flügelschlagend um das geheimnisvolle Gut aus der schwarzen Tasche. Als er Tag um Tag nicht erhört wurde, jagte er den Briefträger eines Tages im Sturzflug vom Rad, die Tasche fiel mit, ging auf, und endlich konnte Tommy ihren Inhalt inspizieren. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass sie rein gar nichts Fressbares enthielt, verlor er das Interesse an dem merkwürdigen Mann, der wertloses Papier in Briefkastenschlitzen versteckte.
3. Und nun noch zwei Empfehlungen für die Tage, an denen die Welt so unerträglich gerade daherkommt, weil zum Beispiel die Steuererklärung ansteht. Auf dem Weg zwischen Schreibtisch und Espressokanne kommt mir dann diese dritte Art Buch zwischen die Finger. Dazu gehört zum Beispiel so ein tiefgründiger Unsinn wie Hans Thills poetische Zeitreise in „Das Buch der Dörfer“.
4. Oder Anke Glasmachers in diesem Jahr neu erschienener Gedichtband „Ein morsches Licht“. Mit immer wieder überraschenden Bildern rücken ihre Zeilen die in Zahlenkolonnen gefangenen Dinge wieder schräg.
Agnieszka Lessmann
Margaret Atwood: „Die essbare Frau“, dt. von Werner Waldhoff, btb, 352 Seiten, 23,40 Euro.

Josef H. Reichholf: „Rabenschwarze Intelligenz – Was wir von Krähen lernen können“, Piper, 256 Seiten, 11 Euro.

Hans Thill: „Das Buch der Dörfer“, Matthes & Seitz, 164 Seiten, 19,90 Euro.

Anke Glasmacher: „Ein morsches Licht“, Elif Verlag, 100 Seiten, 18 Euro.


Auf diesem Blog findet sich ein Gespräch mit Agnieszka Lessmann – HIER .
Was bisher geschah
Die 1. Empfehlung: Rafik Schami über „Fahrplanmäßiger Aufenthalt“ von Franz Hohler – HIER .
Die 2. Empfehlung: Antje Deistler über „Nach vorn, nach Süden“ von Sarah Jäger – HIER .
Die 3. Empfehlung: Mark Benecke über „The complete MAUS“ von Art Spiegelman – HIER .
Die 4. Empfehlung: Nina George über „Ich bin Circe“ von Madeline Miller, „Ein Gentleman in Moskau“ von Amor Towles, „Der Wal und das Ende der Welt“ von John Ironmonger, „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens und „Offene See“ von Benjamin Myers – HIER .
Die 5. Empfehlung: Klaus Bittner über „Die Schlange im Wolfspelz“ von Michael Maar – HIER .
Die 6. Empfehlung: Monika Helfer über „Rohstoff“ von Jörg Fauser – HIER .
Die 7. Empfehlung: Horst Eckert über „Late Show“ von Michael Connelly – HIER .
Die 8. Empfehlung: Werner Köhler über „Beatlebone“ von Kevin Barry – HIER .
Die 9. Empfehlung: Marie Claire Lukas über das Magazin „Spring # 17 – Gespenster“ und „Accidentally Wes Anderson“ von Wally Koval – HIER .
Die 10. Empfehlung: Bettina Fischer über „Die Dame mit der bemalten Hand“ von Christine Wunnicke – HIER .
Die 11. Empfehlung: Cay Rademacher über „Das Rätsel von Zimmer 622“ von Joel Dicker – HIER .
Die 12. Empfehlung (I): Ingrid Noll über „Abschiedsfarben“ von Bernhard Schlink – HIER .
Noch eine 12. Empfehlung (II): Mike Altwicker über „Verdächtige Geliebte“ von Keigo Higashino – HIER.
Die 13. Empfehlung: T. Coraghessan Boyle über „Der Tod in ihren Händen“ von Ottessa Moshfegh – HIER .
Die 14. Empfehlung: Ursula Gräfe über „Paul Celan und der chinesische Engel“ von Yoko Tawada – HIER .
Die 15. Empfehlung: Kristof Magnusson über „Vogelpark von Tobias Schwartz – HIER .