Empfehlung vor dem Fest (14): Ursula Gräfe über Yoko Tawadas Hommage „Paul Celan und der chinesische Engel“

Im Dezember 2020 präsentieren Gastautorinnen und Gastautoren Bücher, die ihnen besonders am Herzen liegen. Mal sind es Neuerscheinungen, mal sind es Klassiker. Tag für Tag und exklusiv auf dem „Bücheratlas“ – bis kurz vorm Tannenbaum.

Ursula Gräfe, geboren 1956, hat in Frankfurt am Main Japanologie und Anglistik studiert und genießt als Übersetzerin höchste Anerkennung. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. Yukio Mishima, Hiromi Kawakami und Sayaka Murata. Für DuMont überträgt sie die Romane Haruki Murakamis ins Deutsche. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature. Bild: G. P. Dailleau

Yoko Tawadas Geschichte hat einen vordergründig realistischen Erzählstrang, der aber so fluide ist, dass die Bezeichnung „Roman“ auf dem Einband vielleicht ein wenig zu viel Plot verspricht. Sie spielt in der Gegenwart, wir erkennen es an den Andeutungen auf Corona-Maßnahmen. Der junge Literaturwissenschaftler Patrick – in den Augen seiner Freundin „ein Weichling, der in einem Café sitzt und süßliche Zeilen liest“ – hat sich mit einem Vortrag über Paul Celans Gedicht „Fadensonnen“ zu einer Tagung in Paris angemeldet, bereut es aber schon, denn er fühlt sich einem solchen Abenteuer nicht gewachsen. Daher flüchtet er sich in eine unbenannte Krankheit. Im inneren Monolog spricht er nur noch als „der Patient“ von sich, denn als Patient genieße er mehr Freiheit, wie er sagt. Und mit den Grenzen zwischen Patrick und Patient verschwimmen auch die zwischen Wirklichkeit und Illusion.

In einem Café begegnet Patrick einem Mann von „transtibetanischem“ Aussehen, der sich als Leo-Eric Fu vorstellt. Schriebe man „Fu“ mit dem japanischen Zeichen 不, könnte es „nicht“ bedeuten. Er sei gekommen, um mit ihm über die Meridiane zu sprechen, die laut chinesischer Medizin den menschlichen Körper durchziehen. Patrick schlägt ihm vor, statt seiner nach Paris zu fahren und den Vortrag zu halten. Das könne er nicht, sagt Eric. „Ich bin nicht vom Fach mein Großvater praktizierte in den fünfziger und sechziger Jahren traditionelle chinesische Medizin in Paris. Es war die Zeit, in der auch Celan dort lebte. Mein Großvater war ein sehr gebildeter Mann, las Chinesisch, Französisch, Hebräisch und Deutsch. In seinem Nachlass fand ich Notizen zu Celans Gedichten. (…) Ich kann Ihnen einiges erzählen, was wahrscheinlich sonst sehr wenige Menschen wissen. Was Sie daraus machen, ist Ihre Sache. Mir ist gleichgültig, ob Sie in Ihrem Beruf erfolgreich werden oder nicht. Ich biete Ihnen keine Laufbahn, sondern einige Meridiane.“

Inspiriert von Paul Celans Büchner-Preisrede von 1960 (*) beschreibt Yoko Tawada ihren eigenen Meridian, den Kreis von Ost nach West, von Innen nach Außen und umgekehrt, spielt mit den Metaphern des Wortes Meridian, das nur einer von vielen Hinweisen auf Paul Celan in ihrem Buch ist. Immer dichter knüpft sie das Geflecht sich kreuzender assoziativer Fäden, die letztlich alle zu Paul Celan führen. So stammen Patricks Eltern ebenfalls aus der Ukraine, der Name Eric verweist auf Paul Celans Sohn, Patrick verzehrt das Brot der Poesie zum Frühstück usw. All diese Andeutungen bilden „Fadensonnen“, ohne dass es unmittelbar um den Inhalt von Paul Celans Gedicht ginge, sondern um etwas, das dieses Wort in uns zum Klingen bringt.

Wer Freude daran hat, sich auf Yoko Tawadas dichterischen Pfaden über ihre besonderen Stimmungsfelder zu bewegen und sich am Ende mit Patrik den weichen Schwingen seines chinesischen Freundes anzuvertrauen, dem sei ihre Hommage an Paul Celan ans Herz gelegt.

Ursula Gräfe

(*) „Ich finde etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes -: ich finde … einen Meridian.“

Yoko Tawada: „Paul Celan und der chinesische Engel“, Konkursbuch Claudia Gehrke, 140 Seiten, 12,90 Euro. E-Book: 9,49 Euro.


Auf diesem Blog finden sich einige Beiträge mit und über Ursula Gräfe, die mit Hilfe der Suchmaske leicht auffindbar sind. So zu ihrer Übersetzung von Yukio Mishimas modernem Klassiker „Der Goldene Pavillon“ ( HIER ), zur Neuübersetzung von Haruki Murakamis „Die Chroniken des Aufziehvogels“ ( HIER ) und grundsätzlich zu ihrer Übertragung aus dem Japanischen ( HIER ) .

  • Was bisher geschah

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