Empfehlung vor dem Fest (17): Anne Burgmer über den großartigen Roman „Die Optimisten“ von Rebecca Makkai

Gastautorinnen und Gastautoren präsentieren im Dezember 2020 Bücher, die ihnen besonders am Herzen liegen. Mal sind es Neuerscheinungen, mal sind es Klassiker. Tag für Tag und exklusiv auf dem „Bücheratlas“ – bis kurz vorm Tannenbaum.

Anne Burgmer ist im Feuilleton des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zuständig für alle literarischen Belange. Unter anderem betreut sie das monatliche „Büchermagazin“. Am 1. Januar 2021 übernimmt sie die Leitung des Kultur-Ressorts. Anne Burgmer gehört der Jury an, die das „Junge Buch für die Stadt“ in Köln und der Region auswählt. Sie ist außerdem Vorstandsmitglied der Kölner Freiwilligen Agentur und engagiert sich dort unter anderem für das Projekt Lesewelten: Die Vorlese-Initiative bietet Vorlesestunden für Kinder zwischen zwei und zehn Jahren an, damit möglichst viele Kinder schon früh in den Genuss des (Vor-)Lesens kommen.   Foto: Privat / abm

Im Frühjahr dieses Jahres las ich ein Buch, dessen (deutscher) Titel nicht so recht zu meiner eher düsteren Stimmung in dieser ersten Phase der Pandemie passen wollte. „Die Optimisten“ heißt Rebecca Makkais bei Eisele erschienener Roman – aber viel Grund zum Optimismus hat ihr Protagonist nicht, denn mit Anfang 30 sollte man seine Freunde nicht zu Grabe tragen müssen. Doch als Yale Tishman seinen Freund Nico betrauert, weiß er, das war erst der Anfang, es werden noch viele Abschiede folgen. Nico ist 1985 der erste Aids-Tote im Freundeskreis von Yale und dessen Partner Charlie, mit dem HI-Virus infiziert haben sich jedoch bereits viele im Chicagoer Schwulenviertel „Boystown“. Und vielleicht ist es sogar falsch, Nico zu bedauern, weil er als erster gehen musste. Vielleicht hatte er Glück, musste er doch nicht mitansehen, welches Schicksal ihm bevorstand.

Es sind vor allem junge Männer, die diese Krankheit dahinrafft. Männer, die häufig lange kämpfen mussten, um so leben zu können, wie sie es möchten, die sich nicht mehr verstecken wollen. Yale fühlt sich sicher, lebt er doch mit Charlie seit Jahren in einer monogamen Beziehung. Doch die Einschläge kommen immer näher. „Was mich mitnimmt ist, dass ich einunddreißig bin und meine Freunde einer nach dem anderen krepieren“, wirft er irgendwann einer Bekannten an den Kopf. Sie fühlen sich wie Todgeweihte. „Sie waren menschliche Dominosteine.“ Wie soll man da tun, was man eben tut, wenn man jung ist: Freundschaften knüpfen, sich verlieben, Menschen in sein Herz lassen? Wissen sie doch alle, dass es darauf ankommt, „die Reste seines Herzens zu schützen, die bei jeder Trennung, jedem Scheitern, jeder weiteren Beerdigung, jedem Tag auf der Erde in immer kleinere Fetzen gerissen wurden“.

Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass „Die Optimisten“ in diesem Frühjahr erschienen ist, das in unseren Köpfen für immer mit der Corona-Krise verknüpft sein wird, die uns wie noch keine Pandemie zuvor vor Augen führt, wie verletzlich wir sind. Natürlich gibt es viele Unterschiede zwischen einer Aids-Erkrankung und dem Corona-Virus. Und doch erscheint beim Lesen dieser Geschichte vieles erschreckend gegenwärtig. Die Angst vor einem unbekannten Feind, einem Virus, das man noch gar nicht richtig kennt. Das verzweifelte Hoffen auf ein Heilmittel. Die Ohnmacht, das Vermeiden von Nähe und Berührungen, das Aufkommen von Verschwörungstheorien und Schuldzuweisungen.

Doch Aids zerstört nicht nur die Leben derjenigen, die erkranken, die Verwüstungen ziehen viel weitere Kreise. Fiona ist Nicos Schwester und sein Tod nimmt ihr nicht nur den Bruder, sondern auch die Familie. Weigern sich die Eltern doch zuzugeben, dass ihr Sohn schwul war und woran er starb. Fiona kann ihnen das nicht verzeihen, und so wird Nicos Freundeskreis ihre Familie, eine Familie, in der sie einen nach dem anderen zu Grabe tragen muss – und darüber fast ihr eigenes Leben vergisst. Noch kurz vor der Geburt ihrer Tochter Claire wacht sie am Bett eines Sterbenden. Das Verhältnis zu Claire ist zeitlebens angespannt, sie entfremden sich zusehends. Irgendwann schließt sich Claire einer Sekte an, bricht den Kontakt ab, geht nach Paris. Dort spielt der zweite Handlungsstrang. 2015 macht sich Fiona in die französische Hauptstadt auf, um ihre Tochter zu suchen.

„Die Optimisten“ ruft uns auch ins Gedächtnis, wie egozentrisch unser Blick auf Aids ist. Knapp 38 Millionen Menschen sind zurzeit weltweit mit dem HI-Virus infiziert. Die Aids-Pandemie hat nach Schätzungen der UN bisher etwa 32 Millionen Leben gefordert. Doch weil man bei uns aufgrund der verbesserten Therapien auch mit einer HIV-Infektion alt werden kann, interessieren wir uns nicht mehr besonders für die Krankheit. Dass sie noch immer die Leben von Millionen Menschen weltweit bedroht, blenden wir aus.

Rebecca Makkai ist ein großartiger Roman gelungen, der eine enorme Sogkraft entwickelt. Mühelos führt sie durch die Geschichte, die 30 Jahre umspannt, ohne sich zu verheddern. Dabei ist ihr akribisch recherchierter Wälzer ein echter Pageturner. Sie beobachtet klug, ihre Dialoge sind lebensnah, an vielen Stellen blitzt ein feiner Humor auf. Sie gleitet nie in Kitsch ab. Ein Roman, der die Kraft der Freundschaft feiert, der seinen Lesern viele Abschiede zumutet, und in dem dennoch immer auch die Hoffnung mitschwingt, dass alles besser werden kann. Und eben deshalb trägt dieser Roman seinen Titel doch zurecht.

Anne Burgmer

Rebecca Makkai: „Die Optimisten“, dt. von Bettina Abarbanell, Eisele, 624 Seiten, 24 Euro. E-Book: 13,99 Euro.


  • Was bisher geschah

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    Die 3. Empfehlung: Mark Benecke über „The complete MAUS“ von Art Spiegelman – HIER .

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    Die 10. Empfehlung: Bettina Fischer über „Die Dame mit der bemalten Hand“  von Christine Wunnicke – HIER .

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