Agnieszka Lessmann wurde im polnischen Lodz geboren, zog mit ihrer Familie 1968 nach Israel und im folgenden Jahr nach Deutschland. Sie hat bislang acht Hörspiele veröffentlicht, darunter „Cobains Asche“, „Mörder“ und zuletzt „Einstiegskurs“. Außerdem arbeitet sie als Kulturjournalistin. Nun legt sie ihren ersten Gedichtband vor. Agnieszka Lessmann wohnt in Bergisch Gladbach.

Agnieszka Lessmann legt ihren ersten Lyrikband vor. Foto: Bücheratlas
Agnieszka Lessmann, Sie haben bislang acht Hörspiele veröffentlicht. Nun gibt es den ersten Lyrikband. Waren die Gedichte schon immer da?
Mit Lyrik habe ich schon sehr früh begonnen, mit etwa 14 Jahren. Die erste Person, der ich die Texte gezeigt habe, war meine Deutschlehrerin.
Dann hat es aber eine Weile gedauert bis jetzt der erste Lyrikband erschienen ist.
Ja, weil ich nicht gedacht hätte, dass ich schon so viele Gedichte zusammenhabe. In der Vergangenheit sind zwar einzelne Gedichte in Zeitschriften oder Anthologien erschienen. Aber an einen Band hatte ich nicht gedacht. Der kam jetzt auf Initiative der Lyrikerin Anke Glasmacher, des Lektors Wolfgang Schiffer und des Verlegers Dincer Gücyeter zustande. Da habe ich mal gesucht, was ich so habe, und es stellte sich heraus, dass die Gedichte einen inneren Zusammenhang aufweisen, offenbar ein Thema, das mich ein Leben lang begleitet hat.
„Wenn man einmal seine Heimat verloren hat…“
Darauf deutet der Titel „Fluchtzustand“ hin.
Als Kind musste ich 1968 mit meiner Familie aus Polen weggehen, als dort antisemitische Propaganda benutzt wurde, um Studentenunruhen niederzuhalten. Wir sind dann erst nach Israel gezogen, aber schon 1969 nach Deutschland gekommen. Als ich 2015 anfing, Geflüchtete in Integrationskursen zu unterrichten, habe ich gemerkt, dass die Fluchterfahrung in mir steckt und immer bleiben wird. Wenn man einmal seine Heimat verloren hat, hat man eine andere Sicht auf die Welt.
Welche Sicht ist das?
Das ist vor allem die Erfahrung, dass der Boden unter den Füßen nicht so sicher ist wie man immer gedacht hat.
Davon handeln viele Gedichte, die auf sehr unterschiedlichen Zeitebenen angesiedelt sind.
Die ältesten Gedichte in dem Band sind noch aus der Zeit der Autorenwerkstatt in Köln, in die ich 1985 eingetreten bin. Aber es sind auch ganz frische Texte darin. Es gibt in „Fluchtzustand“ drei Teile: Erst geht es um eine Bestandsaufnahme, dann um die Geschichte meiner Großeltern in Polen, die ich nicht selbst erlebt habe, aber die mich geprägt hat, und schließlich geht es um die Integrationskurse, durch die mir der Fluchtzustand wieder bewusst geworden ist.
Erfahrungen mit Integrationskursen für Geflüchtete
Seit fünf Jahren unterrichten Sie Deutsch in Integrationskursen für Flüchtlinge. Was haben Sie dabei vor allem gelernt?
Wie schwer es für Menschen aus einem anderen Land, aus einem anderen Kulturkreis ist, in Deutschland Fuß zu fassen. Das ist eine riesige Leistung derer, die aus Afrika oder Asien zu uns kommen. Das hatte ich mir so nicht vorgestellt.
Ist die deutsche Sprache die höchste Hürde?
Deutsch ist wirklich keine einfache Sprache. Aber das Problem ist nicht so sehr die Grammatik. Das habe ich sowohl in meiner eigenen Sprachbiografie erfahren, beim Wechsel vom Polnischen zum Deutschen, als auch bei meinen Kursteilnehmern: das größte Problem beim Sprachenlernen liegt in den Köpfen, in der Psyche. Wenn ich mich auf etwas ganz einlasse, kann ich auch die Sprache relativ schnell lernen. Aber die Menschen, mit denen ich es in den Kursen zu tun habe, sind ja in der Regel unfreiwillig aus ihrer Heimat weggegangen. Die meisten leiden darunter, ihr altes Leben aufgegeben zu haben, das so ganz anders ist als hier bei uns.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn man sich in Syrien mit Freunden verabredet, dann nicht für 15 Uhr am nächsten Tag. Da sagt man: Ich komme morgen. Und dann kommt man halt irgendwann. Vielen Flüchtlingen macht zu schaffen, dass in Deutschland alles getaktet ist. Dass man sich an Pläne halten muss, macht einige ziemlich fertig. Wir verbinden mit Pünktlichkeit Verlässlichkeit und Sorgfalt. Ich habe in den Kursen gelernt, dass das nichts miteinander zu tun haben muss. Es ist interessant zu erfahren, wie stark und wie unterschiedlich die kulturellen Prägungen sind.
Sie sprachen eben von Ihrer eigenen Sprachbiographie. Sie sind in Lodz geboren und haben einige Jahre in Polen gelebt. Wie ist heute Ihr Verhältnis zur polnischen Sprache?
Wenn ich mit jemandem spreche, mit dem ich mich gut verstehe, kann ich viel besser Polnisch, als wenn ich mit jemandem rede, der mir unsympathisch ist. Gerade bei der polnischen Sprache ist das bei mir extrem. Manchmal gibt es die Sehnsucht, sie wieder besser zu können. Aber in Wahrheit ist die Sprache leider sehr weit weg.
Der Großvater, die Limonade und das alte Pferd in Haifa
In Ihren Gedichten geht es auch um die Flucht der jüdischen Großeltern in Polen vor den Nazis. Ist die Flucht von damals mit der Flucht in unserer Gegenwart vergleichbar?
Das war eine ganz andere historische Situation. Meine Großeltern flohen von Lodz nach Piotrkow, was gar nicht so weit war. Sie hatten erfahren, dass in Lodz ein Ghetto eingerichtet werden sollte – aber in Piotrkow wurde dann das erste Ghetto überhaupt eingerichtet. Meine Großeltern sind also in den falschen Ort und nicht weit genug geflohen. Es hatte Pläne gegeben, nach Palästina auszuwandern, aber dazu ist es nicht gekommen.
Warum nicht?
Der Bruder meines Großvaters ist schon 1933 nach Palästina ausgewandert. Als dann der Antisemitismus in Polen zunahm und die Gefahr von Deutschland aus wuchs, gab es Überlegungen, ihm zu folgen. Mein Großvater war Limonadefabrikant. Da dachte man sich in der Familie: Palästina ist heiß, da können die Leute Limonade gebrauchen. Zur Vorbereitung hat mein Großvater ein Probepaket nach Haifa geschickt. Dort sollte mein Großonkel die Ladung abholen. Allerdings hatte er wenig Geld und konnte sich nur ein altes Pferd für den Transport kaufen. Dieses Pferd ist dann tragischerweise unter der Flaschen-Ladung zusammengebrochen. So zerschlug sich der Plan, rechtzeitig nach Israel auszureisen.
Was geschah dann mit den Großeltern?
Sie haben sich eine Zeit lang bei einem Bauern verstecken können, wurden aber verraten und ins Ghetto gebracht. Meine Großmutter starb im Jahr 1943 bei der Deportation nach Auschwitz. Mein Großvater, mein Vater und sein Bruder wurden erst nach Plaszow, dann nach Buchenwald und dort in zwei unterschiedliche Außenlager, nach Colditz und nach Schlieben, verschleppt. Von meinem Großvater fehlt von da aus jede Spur. Mein Vater und sein Bruder kamen kurz vor Kriegsende nach Theresienstadt, wo sie dann befreit wurden. Beide litten zu diesem Zeitpunkt an Tuberkulose, mein damals 19jähriger Onkel hat das Kriegsende nur wenige Monate überlebt.
Viele der Gedichte haben mit Erinnerungen an die Familie zu tun – in Polen, in Israel und in Deutschland. Hilft das Schreiben, Ordnung in diese Erinnerungen zu bringen?
Sie sind auf jeden Fall Teil des Prozesses. So lange etwas nicht in einem Text ausgedrückt ist, hat es möglicherweise etwas Waberndes und Schwammiges, das quälend ist. Wenn man es geschafft hat, das Schwammige in Worte zu fassen, hat man es meist auch begriffen. Das hilft.
Brot ist in diesen Texten ein oft aufscheinendes Motiv. Wieso?
Das ist für mich ein wichtiges Bild, das ist die Existenz schlechthin. Bei meiner Großmutter und auch bei meinem Vater wurde Brot nicht weggeworfen. Wenn es noch genießbar war, wurden daraus Semmelbrösel gemacht. Oder es wurde an Tauben verfüttert. Und zur allergrößten Not wurde es im Kohleofen verheizt.
Der Raum in den Gedichten
Wie fällt die Entscheidung, ob ein Gedanke zu einem Gedicht oder einem Hörspiel werden soll?
Diese Entscheidung steht gar nicht an. Das kommt einfach – und dann weiß ich: das ist ein Gedicht. Da arbeitet dann etwas in mir, formen sich Worte, und habe ich den Eindruck, das aufschreiben zu müssen. Im Schreiben formt sich der Text dann weiter. Und ob das am Ende etwas wird, entscheidet sich später. Manchmal war es ein Gedanke, den ich dann nicht mehr so toll finde, und manchmal merke ich, dass da etwas Lohnendes und Lebendiges drinsteckt.
Sind Sie eine Lyrik-Leserin?
Ja, aber mit der Lyrik geht es mir wie mit der Bildenden Kunst: Ich kann nicht große Mengen auf einmal genießen. Eine Weile habe ich die Gedichte von Jürgen Becker gelesen, davor die von Ingeborg Bachmann. Aber da sind auch Ernst Jandl, Hans Arp, Hans Thill, Peter Rühmkorf, Rose Ausländer, Philip Larkin und Bertolt Brecht. Die fallen mir jetzt aus dem Stand heraus ein. Und natürlich Julian Tuwim und Jan Brzechwa, ihre polnischen Kindergedichte waren die ersten Gedichte, die ich überhaupt kennenlernte. Und Julian Tuwims Erwachsenen-Gedichte lese ich bis heute gern. Was mir grundsätzlich als Leserin von Gedichten gefällt, ist, dass in ihnen so viel Raum ist. Gute Gedichte kann man immer wieder lesen und jedes Mal etwas Anderes entdecken.
Mit Agnieszka Lessmann sprach Martin Oehlen
Lesung und Gespräch
Agnieszka Lessmann stellt ihren Lyrikband in Köln vor.
5. März 2020 um 20 Uhr im Kultursalon Freiraum in Köln-Sülz, Gottesweg 116a. Gemeinsamer Auftritt mit Anke Glasmacher. Moderation: Wolfgang Schiffer.
9. Mai 2020 um 20 Uhr im Rahmen der Kölner Literaturnacht im Bürgerzentrum Deutz in Köln-Deutz, Tempelstraße 41-43. Gemeinsamer Auftritt mit Anke Glasmacher und Wolfgang Schiffer.
Agnieszka Lessmann: „Fluchtzustand“, Elif Verlag, 102 Seiten, 18 Euro.
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