„Im Auge des urbanen Irrsinns“: Autorinnen und Autoren ziehen Bilanz der Kölner Leseaktion „Nimm Platz“ – von B wie Ulrike Anna Bleier bis S wie Enno Stahl

Finale des Lesereigens auf dem Kölner Neumarkt am Sonntag mit Jeanne Diesteldorf und „(K)eine Mutter“. Das Buch ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Foto: Bücheratlas

Der Kölner Neumarkt – so sieht es Oberbürgermeisterin Henriette Reker – ist „ein Problemplatz“. Um die Aufenthaltsqualität zumindest zeitweise ein wenig zu heben, realisierten Kulturamt und Freie Szene das Kulturprogramm „Neumarkt – Nimm Platz“. Das Potpourri rund um den gelben Pavillon der Künstlerin Erika Hock begann Ende Juni und ist am Sonntag zu Ende gegangen. „Mit einer Träne im Knopfloch“ kündigte Ute Wegmann vom Verein Literaturszene Köln die finale Lesung an, die Jeanne Diesteldorf mit ihrem Buch „(K)eine Mutter“ bestritt.

Eine Konstante des Kultursommers auf dem Neumarkt bildete die Open-Air-Ausstellung „Mittendrin“; Wolfgang Zurborns Detailblicke auf Menschen und Plätze in Köln war vom PhotoBookMuseum kuratiert worden. Und als die andere Konstante erwiesen sich die täglichen und kostenlosen Lesungen, die der Verein Literaturszene Köln organisiert hat. Und wie war’s?

An dieser Stelle Eindrücke von einigen der beteiligten Autorinnen und Autoren in alphabetischer Folge. Welche Leseerfahrungen wurden gemacht? Und kann die Kultur den Neumarkt retten?

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Ulrike Anna Bleier („Spukhafte Fernwirkung“)

In Erika Hocks gelbem Pavillon kann man wunderbar sitzen und schauen, wer sonst noch da sitzt und vorbeikommt. Dabei wird sichtbar, wie viele Menschen in Köln unter erbärmlichen Bedingungen auf der Straße leben müssen, weil sie keinen eigenen Platz (mehr) haben, an den sie sich zurückziehen können. Statt sich über Menschen, die im öffentlichen Raum leben (müssen), aufzuregen, sind wir als Gesellschaft in der Pflicht, genügend adäquaten Wohnraum zur Verfügung zu stellen, damit alle menschenwürdig leben können. Das ist für mich eigentlich die wichtigste Botschaft von NIMM PLATZ am Neumarkt.

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haben wir Ulrike Anna Bleiers Roman „Spukhafte Fernwirkung“ (edition lichtung) HIER vorgestellt.

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Christoph Danne („Erzählen von Walen“)

Drumherum kreischt die Linie 9, eng getaktet Sirenen und Blaulicht, auf dem Platz fällt eine Flasche, gurren die Tauben, flucht ihnen einer hinterher und genau in der Mitte, im Auge dieses urbanen Irrsinns: eine Handvoll Menschen, die der Poesie zuhören. Nimm Platz: Eine Idee gegen jede Wahrscheinlichkeit und deshalb so gelungen – wie ein gutes Gedicht.

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findet sich ein Beitrag über Christoph Dannes Band „bewegliche Ziele“ genau HIER. Der Gedichtband „Erzählen von Walen“, aus dem der Autor gelesen hat, ist im Elif Verlag erschienen.

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Yannic Han Biao Federer („Tao“)

Für mich war das eine sehr besondere Lesung, ich hatte Texte ausgewählt, in denen es um Kalk geht, einige Passagen aus meinem Roman „Tao“ und einen Essay von literatur-rheinland.de, und wann immer es laut wurde in der Erzählung, hat der Neumarkt mitgeholfen, haben rechtzeitig Autos gehupt, hat wer gerufen, gebrüllt, ist eine Straßenbahn herbeigerumpelt, es war sozusagen ein spontan inszeniertes Live-Hörspiel, ab und zu kam auch wer vorbei und fragte, was hier los sei, da konnte ich dann kurz unterbrechen und sagen, eine Lesung, setz dich doch, also, es war sehr schön, die Bühne können wir dort noch brauchen.

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haben wir Yannic Han Biao Federers jüngsten Roman „Tao“ HIER vorgestellt. Eine Besprechung des Debütromans „Und alles wie aus Pappmaché“ gibt es HIER. Beide Bücher sind im Suhrkamp Verlag erschienen.

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Edgar Franzmann („68“)

Ich hatte das Pech, dass mein Lesetermin mit der CSD-Parade zusammenfiel. Tausend bunte BesucherInnen umzingelten mich, aber die waren leider nicht an mir interessiert. Die Lesung konnte mit einer Stunde Verspätung beginnen, die gelbe Tribüne war da zur Hälfte mit CSD-Leichen bevölkert. Besser als gar kein Publikum! Im Ernst: Ich fand die Aktion gut, habe bei anderen auch schöne Lesungen miterlebt, ich persönlich hätte besser auf die Terminkollision achten müssen. Oder, wie der Dichter sagt: Shit Happens.

Der Kriminalroman

„68“ ist im Emons Verlag erschienen.

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Joachim Geil („Die närrische Wendigkeit der Bachstelzen“)

Ich habe selbst gelesen, aber auch Kolleginnen und Kollegen besucht. Immer war ich von Leben umgeben, von Literaturinteressierten, aber auch von Leuten, die einfach vorbeikommen oder eigene Interessen auf dem Neumarkt verfolgen. Auf dem Platz gibt es eine Möglichkeit der Begegnungen, auch unabsehbarer, für eine Minute oder für einen Text, die es in den Schutzzonen des Literaturbetriebs selten gibt. Literatur muss ja nicht politisch sein, aber ab und zu mal rausgehen und frische Luft schnappen. Lesender im Stadtgetriebe des Neumarkts zu sein, ist eine spürbare Berührung mit dem Leben im Außenbereich, das einfach da ist, nicht immer aufmerksam, manchmal hart oder laut, aber von überzeugender Deutlichkeit. Ich habe den Eindruck, der Lesesommer der Literaturszene und andere Aktionen im Pavillon schaffen diesen Neumarkt, ein über die Jahrhunderte nicht immer anziehender Ort, überhaupt erst als möglichen Platz für alle. Und Bretter, die eine halbe Stunde lang die Welt bedeuten, mit allen, die gerade wollen, sind doch ein lebendiges Gegenprogramm zu einem Problem unserer Zeit, der Vereinzelung. Die brauche ich nur beim Schreiben.

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hat Joachim Geil schon einige Male Erwähnung gefunden (die Suchmaske weist den Weg), unter anderem auch mit dem Text „Die närrische Wendigkeit der Bachstelzen“ – und zwar HIER. Der Autor hat den Roman „Ruhe auf der Flucht“ 2016 im Steidl Verlag veröffentlicht.

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Anke Glasmacher („Zwanzig/Vierzehn – Ein Nachrichtenjahr“)

Sitzplatz, Ruhezone, Begegnungsort – dieser gelbe Pavillon steht im besten Sinn im Weg. Menschen, die eilig den Platz überqueren wollen, bleiben irritiert stehen; Jugendliche setzen sich an den Pavillon, trinken ihren coffee to go und hören einen Moment zu; die, die ohne Obdach sind und an den übrigen Tagen auf dem Neumarkt übersehen worden wären, diskutieren mit den Autor/innen über ihre Texte. Der gelbe Pavillon kann Armut nicht beseitigen und Beton nicht verwandeln, aber er hat als Kulturbüdchen umgehend die Funktion eines Marktplatzes übernommen. Ich hoffe, er darf bleiben, bespielt werden und so erster Baustein für den zukünftigen Neu-Markt sein.

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findet sich HIER eine lobende Erwähnung zu Anke Glasmachers Gedichtband „Ein morsches Licht“ (Elif Verlag), abgegeben von Agnieszka Lessmann. Der Band „Zwanzig/Vierzehn – Ein Nachrichtenjahr“ ist ebenfalls im Elif Verlag erschienen.

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Stan Lafleur („Am Rande der Wahrscheinlichkeit von Mexiko“)

Der Vortrag im öffentlichen Raum hat seine eigenen Bedingungen/Gesetze. Mir sagten einige Stimmen aus dem Publikum, aufgrund der Mikrofonverstärkung sei alles bestens verständlich gewesen. Mir persönlich fehlten Monitorboxen – das machte den Vortrag bei der herrschenden Lärmkulisse anstrengender als sonst. Ob die Aktion positive Auswirkungen auf den Platz zeitigt, vermag ich nicht zu beurteilen, dafür kenne ich die Situation am Neumarkt zu schlecht.

Der Band

„Am Rande der Wahrscheinlichkeit von Mexiko – Zentralamerikanische Gedichte und Reisenotizen“ ist in der parasitenpresse erschienen.

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Jürgen Nendza („Auffliegendes Gras“)

Toller Pavillon. Grundsätzlich war von organisatorischer Seite alles bestens aufgestellt, Kompliment! Großartig auch, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer über Kopfhörer der Lesung folgen konnten. Für mich als Autor war es eher schwierig, gegen Dauerbeschallung anzulesen. Gut, es war ein Experiment und gegen Lesungen im öffentlichen Raum ist nichts einzuwenden. Es bleibt abzuwarten, wie die Gesamtauswertung der Nimm Platz-Leseaktion ausfallen wird. Vielleicht hat die Aktion etwas bewegt und auf den Weg gebracht. Allerdings bin ich skeptisch, ob diese temporäre Veranstaltungsreihe über ihren sommerlichen Eventcharakter hinaus etwas zur Aufwertung des Neumarkts beitragen kann. Die Probleme dort sind doch zu vielschichtig und komplex.

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haben wir den Gedichtband „Auffliegendes Gras“ (Poetenladen) HIER besprochen. Außerdem findet sich ein Beitrag über einen gemeinsamen Literaturhaus-Auftritt von Jürgen Nendza und Sabine Schiffner genau HIER.

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Gundula Schiffer („Hioba Hymore“)

Eigentlich lese ich nicht so gern auf rummeligen Plätzen, weil ich schnell abgelenkt und aufgeregt bin, wenn zu viele Reize auf mich einströmen. Um gut lesen zu können, brauche ich geschützte Räume, wo ich zusammen mit dem Publikum in die Texte abtauchen kann. Dank des Pavillons von Erika Fock ist mitten auf dem Neumarkt ein kleines Gehäuse entstanden, in dem und um das herum sich die Menschen zum Zuhören sammeln konnten. So hat sich für mich eine Atmosphäre der Aufmerksamkeit entfaltet und konnte ich die Lesung sehr genießen. Zunächst hatte ich Gefühl, dass meine Stimme im Freien zerschellt, aber das hat sich nach ein paar Minuten gelegt, als ich mich ans Mikrophon gewöhnt hatte. Zum ersten Mal habe ich mitten in der Stadt, auf einem öffentlichen Platz aus meinen hebräischen Gedichten vorgetragen. Das habe ich darum als noch mal demonstrativer, gewichtiger empfunden. Ich musste an die Tradition der Bänkelsänger:innen denken. In jedem Falle finde ich, dass kulturelle Aktionen wie diese den Neumarkt lebenswerter machen, ich habe mich selten so gern dort aufgehalten wie bei den Nimm Platz!-Lesungen.

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haben wir HIER auf „Hioba Hymore“ verwiesen, als Gundula Schiffer für diesen Band das Dieter-Wellershoff-Stipendium erhalten hat. Außerdem gibt es einen Beitrag über ihren Auftritt in der zweiten Kölner Literaturnacht – HIER. Der Gedichtband „Hioba Hymore“ ist im Elif-Verlag erschienen.  

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Sabine Schiffner („Nachtigallentage“)

Der Neumarkt war mir bisher eher fremd, unheimlich, angstbesetzt wegen seiner schrägen Bewohner. In den letzten zwei Monaten bin ich aber sehr oft am Nachmittag nach der Schreibarbeit dort hingefahren, habe mich in den geschützten gelben Raum gesetzt und zugehört, oft auch Kolleg*innen moderiert und zuletzt selber dort gelesen. Mein Verhältnis zum Platz und seinen schrägen Bewohnern hat sich geändert. Sie haben mir zugehört und zugesehen, ich habe ihnen zugehört und zugesehen. Es war für mich sehr schön, für zwei Monate einen zentralen Platz wie den Neumarkt zu haben, wo ich Kultur erleben und Menschen treffen kann. Meine Sicht auf etwas, was ich nicht besonders mochte, hat sich auf einmal ins Gegenteil verkehrt.

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haben wir den Roman „Nachtigallentage“ (Quintus Verlag) HIER vorgestellt. Außerdem findet sich ein Beitrag über einen gemeinsamen Literaturhaus-Auftritt von Sabine Schiffner und Jürgen Nendza genau HIER.

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Bastian Schneider („Paris im Titel“)

Als Bilanz kann ich sagen, dass es eine sehr besondere Location ist, weil die dort präsentierte Literatur in einen im besten Sinne wundersamen Dialog mit der Umgebung tritt, wenn mitten im Text beispielsweise ein lautstarker Taubenschwarm abhebt oder die Straßenbahnen entlangfahren, halten und Menschen – potenzielles Publikum – ausspucken. Gefallen hat mir auch das sich Einfügen in die Kulisse; gleichzeitig bot einem der Pavillon ausreichend Schutz, um sich zu konzentrieren – sei es als Lesender oder Hörender. Ich habe gern gelesen, auch gerade weil das Publikum durchmischter war als an herkömmlichen Literatur-Orten. 

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findet sich HIER ein Beitrag über Bastians Schneiders Premierenlesung seines Debütromans „Das Loch in der Innentasche meines Mantels“ (Sonderzahl). Der Band „Paris im Titel“ ist ebenfalls bei Sonderzahl erschienen.

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Margarete von Schwarzkopf („Der Stein des Todes“)

Leider gab es im Internet eine falsche Ortsangabe, die am Freitag sehr wahrscheinlich zu Buche schlug: Heumarkt statt Neumarkt. Das darf nicht passieren! Ich selbst hatte zwar nicht gerade ein Riesenpublikum, aber, geschützt vor dem Regen in der gelben Box, hörten einige Neugierige gespannt zu. Allerdings müsste mehr auf dem Neumarkt für diese Reihe geworben und das Ganze in Zukunft noch professioneller ausgerichtet werden. Dann wäre dies sicherlich nützlich für die Kölner Stadtkultur insgesamt und vor allem für das ramponierte Image des Neumarkts. 

Der Kriminalroman

„Der Stein des Todes“ ist soeben im Emons Verlag erschienen.

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Enno Stahl („Sanierungsgebiete“)

Die Lesungssituation auf dem Neumarkt war ungewöhnlich und interessant. Die Akustik im Pavillon war erstaunlich gut, so konnten die Zuhörerinnen und Zuhörer der Lesung folgen trotz eines illustren Geräuschpanoramas drumherum – Rettungswagensirenen, Junkiestreitereien, Bahngeläut, kurz: eine urbane Situation für urbane Texte.

Der Roman

„Sanierungsgebiete“ ist im Verbrecher Verlag erschienen.

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Foto: Bücheratlas

6 Gedanken zu “„Im Auge des urbanen Irrsinns“: Autorinnen und Autoren ziehen Bilanz der Kölner Leseaktion „Nimm Platz“ – von B wie Ulrike Anna Bleier bis S wie Enno Stahl

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