Der Ehemann im Kellerversteck: „Nachtigallentage“ von Sabine Schiffner ist ein herrliches Psychodrama, das die Nerven kitzelt

Am Aachener Weiher in Köln lernen sich Sigune und Torsten näher kennen. Im Biergarten trinkt sie Cola, er Apfelschorle. Foto: Bücheratlas

Sobald Sigune über ihren Mann nachdenkt, rollt sie ihre Ärmel auf und fängt an, „die Haut zu knibbeln, bis die so wehtut, dass sie das Nachdenken über Andreas für einen Moment vergisst.“ Manchmal nimmt sie auch ein Taschenmesser und ritzt sich in die Haut. Man sieht: da liegt einiges im Argen. Vorneweg die Ehe von Sigune und Andreas.

Das Messer in der Hand

Sieben Jahre sind sie verheiratet, zwei Kinder haben sie. Doch keine Spur von Liebe (oder Freundschaft oder Partnerschaft). Stattdessen wird Sigune geplagt von Entfremdung, Unterdrückung und Frust. Eines Nachts hat sie ein Küchenmesser in der Hand – und wenig später liegt der Ehemann („den sie aber nie so nennt“) tot im Hausflur.

Sabine Schiffner legt mit „Nachtigallentage“ ein Kammerspiel vor, das die Nerven kitzelt. Der Roman zieht seinen besonderen Kick daraus, dass Sigune nichts Besseres einfällt, als den Toten in den Keller zu schleppen und dort zu verstecken. Das ist zunächst einmal eine körperliche Herausforderung: „Aber sie hätte ihn doch nicht einfach die Stufen hinunterrollen lassen können, das wäre nicht gegangen, er war doch immer noch ihr Mann.“ Und der Nervenkitzel? Der hat mit der einen Frage zu tun: Wie kommt die Romanheldin, die uns durchaus sympathisch ist, aus dieser Nummer wieder raus?

„Als sei ich eine andere“

Erzählt wird aus der Perspektive von Sigune Vorinsfeld. Und zwar auf zwei Ebenen. Einerseits erleben wir sie im Dialog mit Torsten Schwarz, dem ermittelnden Polizisten aus Köln, in den sie sich verliebt hat. Schnell sind die beiden ein Paar. Da scheint es unabwendbar zu sein, dass Sigune das Versteckspiel aufgibt. Sie entschließt sich, alles aufzudecken: „Du sollst wissen, dass ich, während ich erzähle, so tue, als sei ich eine andere, eine, die das ganze Geschehen von außen erzählt. Als würde ich mir eine Geschichte ausdenken. Denn so ist es für mich einfacher.“

Was Sigune dann dem Geliebten schildert, findet auf der zweiten (und hauptsächlichen) Ebene statt. Dabei kommt es ihr so vor, als sei, was sie da offenbare, erfunden und nicht erinnert. Wie eine Geschichte aus einem Roman. Sie selbst ist sich also nicht sicher, ob alles so gewesen ist wie sie es darstellt. Und auch wir sollten uns die Lust am Zweifel bewahren.

Neigung zum Verschweigen

Sigune neigt dazu, Dinge zu verheimlichen. Das war schon der Fall, als sie ein Buch über die Zubereitung von Singvögeln – eine Übersetzung aus dem Italienischen – für einen Verlag lektorierte. Das sollte möglichst niemand erfahren. Dabei ging es ihr nicht um den professionellen Ruf, sondern um die Großmutter, die eine „Vogelnärrin“ war. Aber was ist das schon für ein Geheimnis im Vergleich zum toten Ehemann, der luftdicht verpackt im Keller liegt!

Spätestens hier ist es an der Zeit, den Plot nicht weiter aufzufächern. Aber das sei gesagt: es ist ein famoser Fächer. Mit starken Szenen auf jedem Blatt, das zwischen den einzelnen Rippen gespannt ist. Und gegen Ende, wenn Polizei, Kinder, der neue Freund, ein Nachbar mit Wasserschaden und zwei Erpresser zu einer Art Showdown auftreten, meint man gar, dass hier kräftig mit einem XXL-Fächer gewedelt wird.    

„Nachtigall, ich hör dich singen“

Leitmotivisch erklingt immer wieder das Volkslied „Nachtigall, ich hör dich singen“. Es stammt aus der Abteilung Liebeskummer und wurde von den Romantikern Achim von Arnim und Clemens von Brentano in ihrer Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ aufgenommen. Der Ich-Erzählerin bieten die Verse einen gewissen Halt. Und „Nachtigallentage“ sind für sie solche Tage, an denen sie glücklich gewesen ist. Nach ihnen sehnt sie sich. Sigune macht sich mit ihrer Geschichte auf den Weg dorthin.

Sabine Schiffner, von der zuletzt der Gedichtband „Wundern“ erschienen ist, beeindruckt mit einer Liebesgeschichte im Gewand eines Psychothrillers. Psychologisch fein gestrickt, spannend zugespitzt und abgründig schillernd. „Nachtigallentage“ ist ein kurzweiliges Vergnügen um Schuld und Sehnsucht.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

sind wir auf Sabine Schiffners Gedichtband „Wundern“ HIER eingegangen.

Premierenlesung

aus dem Roman an diesem Dienstag, 4. April 2023, im Kölner Literaturhaus und im Livestream um 19.30 Uhr. Moderation: Guy Helminger.

Sabine Schiffner: „Nachtigallentage“, Quintus, 200 Seiten, 22 Euro.

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