Säbelzahnkatze, Gewölbekrone und das Andonnern der Greifer im Braunkohlegebiet: Jürgen Nendzas starker Lyrikband „Auffliegendes Gras“

Vor dem Wegbaggern: Haus in Manheim. Als „Kompensationsort“ wurrde Manheim-neu zum Leben erweckt. Foto: Bücheratlas

Einen vortrefflichen Einstieg hat Jürgen Nendza für seinen Lyrikband „Auffliegendes Gras“ gefunden: „Und Rüttelverdichtung“. In diesem ersten Vers steckt vieles drin. Unmittelbar entdeckt man die innewohnende „Dichtung“ und womöglich einen Anklang an den geschüttelten, wenn auch nicht gerüttelten Reim. Vor allem aber sind wir mit diesem Vers sofort mitten im Thema.

„Kompensationsorte“ für die Weggebaggerten

Der Lyriker, vor wenigen Tagen 65 Jahre alt geworden, widmet sich im ersten Zyklus des Bandes dem „Andonnern der Greifer“ im Rheinischen Braunkohlegebiet. In harten Dreizeilern werden Fakten und Substantive rüttelnd verdichtet. Dabei wirft der Autor einerseits einen Blick auf die Vernichtung dessen, was in Jahrmillionen kreuchte und fleuchte, was wuchs, sich ablagerte und umfangen wurde, von der Säbelzahnkatze über „das Universum des Wallnussbaums“ bis zur „villa rustica“.

Und er blickt andererseits auf die „Revierverluste“ der Bewohner in der Region. Sie wurden aus den weggebaggerten Siedlungen vielfach umgesiedelt in „Kompensationsorte“, denen ein schnödes „neu“ angehängt oder vorangestellt wird. Auch die Verstorbenen ziehen in die Retorten-Orte um: „die rechtwinkligen Toten / ins rechtwinklige -neu“. Und sie werden dereinst ruhen am Ufer des Indeschen Ozeans, der nichts mit Indien zu tun hat, sondern mit dem Tagebau Inden, der eine Leere hinterlassen wird, die vom Wasser verdeckt werden soll.  

Der „Aushub der Narrative“

Allemal ist die intensive Recherche offenkundig, die diesen Versen zum Abbau und zur Bodendenkmalpflege im rheinischen Braunkohlerevier vorangegangen sind. Einmal wird sogar eine Archäologin zitiert, als ginge es um eine Reportage: „Man muss sich hineindenken / in das Gefäß“. Fachbegriffe allenthalben: „Suchschnitte“, „Knochenbrand“, „Setzungsfließen“. Dadurch wird den Versen einerseits ein cooler Touch verliehen, anderseits spürt man das Erschrecken über den brutalen Eingriff in die Natur und in die Lebensgeschichten. Es handelt sich buchstäblich um einen „Aushub der Narrative“.  Und die Kohle, die da gefördert wird, scheint vor Empörung zu glühen.

Darauf folgt in diesem Band der entschlossene Schritt ins Positive – raus aus der Grube und dem Lichte zugewandt! Das „Arboretum“ ist eine formschöne und lehrreiche Baumkunde in zehn Gedichten. Dabei mögen sich Autofahrende erinnert fühlen an die wegen des Tagebaus umverlegte A4, an deren Böschung in exaktem Abstand und in fünf Exemplaren der jeweilige „Baum des Jahres“ – beginnend mit 1989 – eingepflanzt worden ist.

Die Empfindlichkeit der Espe

Jürgen Nendza liefert nun lyrische Auskünfte zu Rinde, Ast und Krone seiner eigenen Top Ten. Nicht dampfend vor Hingabe, sondern kundig, genau und poetisch. „Starkastig“ die Stieleiche, „unbeastet“ die Rotbuche, „wie geastete Milch“ das Fließen im Weichholz der Silberweide. Auch Kulturgeschichtliches kommt vor. Menschenähnliches obendrein. Über die Espe heißt es: „Eine Empfindlichkeit am Wegrand, / die sich ins Zittern schon legt // bei geringstem Denkanstoß, die große Flatter / längs der langen abgeflachten Blattstielbahnen.“ Beseelte Natur.

Die Rotbuche wird in dem Band aus vielen Gründen gepriesen – auch für ihre Gewölbekrone. Foto: Bücheratlas

Der schmale Band ist reich an solchen Attraktionen. „Kretisches Gelände“ macht die Bahn frei für die Kraniche, die beim Liebesglückstanz Gras auszupfen und in die Luft werfen, und liebesbeglückt beginnt und endet dieser Zyklus mit „Zungenblüten und -blühen“. Das nachfolgende „Was zusammenfällt“ reiht – auf nahezu erzählerische Weise – positiv grundierte Alltags- und Erinnerungsmomente aneinander. Und „Vor dem Nachtquartier“ folgt anschaulich den Erscheinungsformen einer Starenwolke, „die durch den Kolben / einer Sanduhr glitt / und sich lautlos // über den Stromleitungen / am Feldrand zu einer Nulllinie / ausdünnte…“.  Allerdings werden Leserin und Leser erst im Anmerkungsteil ausdrücklich auf die Schwarmvögel verwiesen. Danach liest sich der Text wie neu.

Lobredner der Schöpfung

Jürgen Nendza, der vor 30 Jahren seinen ersten von mittlerweile elf Gedichtbänden vorgelegt hat, ist ein Tiefenbohrer der Natur und der Geschichte. Ein Lobredner der Schöpfung. Zudem ein genauer Beobachter und origineller Vermittler des Zwischenmenschlichen.

Auf seine Verse kann man sich immer wieder neu einlassen. „Auffliegendes Gras“ verdichtet viele Geschichten, die der Entdeckung harren, und lässt jede Menge Assoziationen zu. Wer glaubt, endlich sicheres Deutungs-Terrain erreicht zu haben, sollte sich seiner Sicherheit nochmals vergewissern. Um es mit einem Zitat zu sagen: „Hier, nimm / diesen Zweig. Er ist voller Wälder…“

Martin Oehlen

Jürgen Nendza: „Auffliegendes Gras“, Verlag Poetenladen, 72 Seiten, 18,80 Euro.

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