Premierenlesung im Literaturhaus Köln: Bastian Schneider (oder ist es sein Double?) präsentiert den Roman „Das Loch in der Innentasche meines Mantels“  

Bastian Schneider zeigt einen Artikel aus der renommierten Zeitschrift „Lettre International“ über einen gewissen Bastian Schneider. Screenshot: Bücheratlas

Bastian Schneider, der Held des Romans „Das Loch in der Innentasche meines Mantels“ von – äh – Bastian Schneider, ist irritiert. Als der Schriftsteller in der Pension Galata in Istanbul einchecken will, erklärt ihm der Portier, dass er dies doch schon vor vielen Stunden getan habe. Doch nicht genug damit. Bald darauf vernimmt Bastian Schneider, der ein Auslands-Stipendium der Stadt Köln absolviert, dass er im Magazin „Lettre International“ einen Artikel veröffentlicht habe, von dem er nichts weiß. Ja, all das ist merkwürdig genug, aber nur der vergleichsweise harmlose Prolog zu einem sich immer schneller drehenden Reigen um Identität und Literatur. Wir empfehlen: alle mal fest anschnallen.

„Eine ganz neue Erfahrung“

Irritation ist auch die treue Begleiterin, als am Montagabend die Premierenlesung im Literaturhaus Köln stattfindet. Bettina Fischer, die Leiterin der Institution am Großen Griechenmarkt, gesteht bei der Begrüßung ihre Überraschung darüber, im Roman erwähnt zu werden. „Eine ganz neue Erfahrung“, denn bisher sei sie noch nicht als literarische Figur in Erscheinung getreten. Doch nicht genug damit. Auch sei sie nicht sicher, welcher Bastian Schneider auf dem Podium Platz genommen habe. Ist es der 1981 in Siegen geborene Schriftsteller, ist es die Romanfigur oder gar ein Dritter?

Tatsächlich spielen Bastian Schneider und Moderator Michael Mittelmeier das Identitäts-Spiel, das im Roman geboten wird, auf der Bühne munter weiter. Er sei nur „ein Double“, sagt Bastian Schneider, und wird als solches von Martin Mittelmeier vorzüglich in Szene gesetzt. Was selbstverständlich zur Folge hat, dass das Publikum unentwegt gefordert ist, hinter die Masken zu schauen: Was ist des Pudels Kern?

„Bierlaune“ führt zur „Schnapsidee“

Literaturliteratur kann furchtbar verstiegen sein. Doch nicht in diesem Falle. Ganz und gar nicht. Klar, im Roman gibt es einige Vertracktheiten. So antwortet der Protagonist Bastian Schneider auf die Frage, woran er gerade arbeite: „Ich will ein Buch schreiben, das ich lesen möchte zur Vorbereitung darauf, das Buch erst zu schreiben.“ Aber dieses Um-die-Ecke-denken lässt sich sehr gut aushalten. Es ist eher so, wie es Martin Mittelmeier – dessen Buch über „Die Dialektik der Aufklärung“ wir auf diesem Blog HIER vorgestellt haben – feststellt: Man kichere bei der Lektüre immerzu in sich hinein.   

Tatsächlich steckt der Roman voller Witz in Wort, Bild und Konstruktion. Ein paar Späße gibt es überdies. Da entsteht aus einer „Bierlaune“ eine „Schnapsidee“, und da trägt ein Verleger den Vornamen Sonder, was nicht nur sonderbar klingt, sondern auch deshalb auffällt, weil der vorliegende Roman im Verlag Sonderzahl erscheint. Das alles bereichert eine Geschichte, in der die Unruhen nach dem Putschversuch in der Türkei (2016) eine Art Hintergrundrauschen erzeugen. Bastian Schneider, der bislang vor allem Kurzprosa veröffentlicht hat, überzeugt mit vielen kraftvoll-surrealen Episoden. Die hat er schon in drei vorangegangenen Veröffentlichungen mit Kurzprosa unter Beweis gestellt – im Roman ist von einem „assoziativen Apropos“ die Rede. Unter diesen Mikroerzählungen, die sich zu einer Geschichte versammeln, ist die vom 50 Jahre alten Balletttänzer mit dem achtsam genährten Bierbauch und jene vom Mützenmacher, der an seiner Schreibmaschine sitzt und tippt: „Das Blatt verschwand langsam in der Maschine und kam vorne als Mütze wieder heraus, die der Mann dann hinter sich ins Dunkel warf, bevor er das nächste Blatt in die Maschine spannte.“

Auf Schneider folgt der Änderungsschneider

Hat der fiktive Schriftsteller in der ersten Hälfte des Romans das Sagen (in einem Tagebuch), so räumt er plötzlich die Bühne frei für einen Änderungsschneider. Der macht sich sogleich auf die Suche nach dem Verschwundenen. Denn der Pariser mit dem sprechenden Nachnamen Flaus Fadnsain hegt den begründeten Verdacht, in Schneiders noch unvollendetem Roman eine Rolle zu spielen – und da würde er halt gerne ein Wörtchen mitreden.

Gewiss ist es keine Novität, dass eine Romanfigur um ihr Leben fürchtet und sich deshalb an den Autor wendet. Auf unserem Literaturblog haben wir kürzlich erst auf die Neuausgabe von Miguel de Unamunos Roman „Nebel“ verwiesen. Da kommt es gar zur unmittelbaren Konfrontation zwischen Schöpfer und Schöpfung. Die findet im „Mantel“-Roman nicht statt, denn immerzu verpasst der Änderungsschneider seinen Schneider.

Was treibt Enrique Vila-Matas um?

„Das Loch in der Innentasche meines Mantels“ bietet ein dichtes Gewebe aus Fakten und Fiktionen. Der Roman entzieht seiner Leserschaft ein ums andere Mal und auf sehr angenehme Weise den Boden unter den Füßen. Immer wieder sieht man sich zu einem Check verleitet: Was ist wahr, und was ist erfunden? Was ist ein Original und was nur ein Abklatsch?

Oft bestätigt dann das Netz, was man für pure Erfindung gehalten hat. Dazu zählen die Jim-Carrey-Ähnlichkeit eines Namensvetters von Bastian Schneider, der als Richter tätig ist („leicht schiefes Lächeln gepaart mit einem markanten Kinn“) oder der Artikel aus „Lettre International“, in dem geschrieben steht: „Ich heiße Bastian Schneider und bin Assistent eines Autors, für den ich lediglich der Lieferant aus dem Kontext gelöster Sätze bin.“ Nicht zuletzt spielt der real existierende spanische Autor Enrique Vila-Matas, dessen Werkverzeichnis nur scheinbar eine Erfindung ist, eine erhebliche Rolle.

Finale mit Waschzettel

Die Kapitel des Romans sind genäht wie ein Mantel: Da gibt es einige „Knöpfe“, 90 Seiten „Oberstoff“, wenige „Nähte“, 60 Seiten „Futter“ und einen kleinen, kaum eine Seite füllenden „Flicken“ für das Loch in der Innentasche des Mantels. Als Zugabe findet sich ein „Waschzettel“, dessen Inhalt unter einem QR-Code verborgen ist. Wer diesen scannt, bekommt allerdings keine Angaben, wieviel Schonung der Stoff bedarf. Vielmehr startet ein Fünf-Minuten-Wackelfilm über Istanbul, den ein Bastian Schneider eingestellt hat – ist es der Autor, die Romanfigur, gar der Richter? Unsere App übersetzt den türkischen Titel „Bul sehir“ mit „Stadt finden“. Was gut zu einem Roman passt, in dem nun wirklich sehr vieles stattfindet. Ein schöner Spaß – das Buch wie seine Premiere.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir den Roman „Nebel“ von Miguel de Unamuno HIER vorgestellt.

Martin Mittelmeiers Sachbuch „Freiheit und Finsternis“, in dem er die Geschichte der „Dialektik der Aufklärung“ erzählt, gibt es HIER.

Und weil Bastian Schneider, der Held in Bastian Schneiders Roman, mit Jörg Fausers „Rohstoff“ im Gepäck nach Istanbul reist, sei auf zwei Bücheratlas-Beiträge verwiesen: Einmal auf eine Würdigung des Romans durch Monika Helfer (HIER) und einmal eine Vorstellung der Werkausgabe bei Diogenes (HIER).

Schließlich: Ein Beitrag anlässlich der Zuerkennung des Dieter-Wellershoff-Stipendiums, dessen Jury Sonja Herrmann, Martin Mittelmeier und Martin Oehlen bildeten, findet sich HIER.

Gefördert wurde der Roman

von erstaunlich vielen Stellen: durch ein Stipendium der Stadt Wien, ein Projektstipendium des österreichischen Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport, je ein Arbeitsstipendium der Kunststiftung NRW und des Kulturministeriums NRW sowie durch das Dieter-Wellershoff-Stipendium der Stadt Köln. Und 2017 gab es eben auch noch das Stipendium der Stadt Köln im Atelier Galata in Istanbul, das im ersten Kapitel des Romans Erwähnung findet.  

Bastian Schneider: „Das Loch in der Innentasche meines Mantels“, Sonderzahl, 168 Seiten, 20 Euro.

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