Literaturland NRW (11): Die Marcel-Proust-Promenade in Köln erinnert an den Autor der „Suche nach der verlorenen Zeit“

Literarische Orte in Nordrhein-Westfalen besuchen wir in lockerer Folge: Schauplätze, Erinnerungsorte, Institutionen. Diesmal geht es um Marcel Proust, der vor 150 Jahren, am 10. Juli 1871, geboren wurde. Zwar ist Proust nie im Rheinland und nie in Westfalen gewesen. Doch kann man in Köln auf der Marcel-Proust-Promenade flanieren. Warum das so ist? Hier steht’s geschrieben.

Wir beginnen die Marcel-Proust-Promenade im Kölner Stadtwald dort, wo die Kitschburger Straße nur noch wenige Meter von der Friedrich-Schmidt-Straße entfernt ist. Foto: Bücheratlas

Marcel Proust (1871-1922) ist nie in Köln gewesen. In Deutschland hat er es lediglich bis nach Bad Kreuznach geschafft. Dennoch ist Köln diejenige deutsche Stadt, in der dem Autor des siebenbändigen Romankolosses „A la recherche du temps perdu“ („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) besonders große Aufmerksamkeit zuteilwird. Die hier ansässige Marcel-Proust-Gesellschaft ist nicht nur damit befasst, ihre Mitglieder zu einschlägigen Versammlungen einzuladen. Auch leistet sie mit zahlreichen Veröffentlichungen ihren Beitrag zur Erforschung des Autors und seines Werks. Überdies hat der Kunst- und Literatursammler Reiner Speck in seiner „Bibliotheca Proustiana“ einen außerordentlichen Schatz zusammengetragen. Dazu gehört seit 2021 jenes Manuskript, in dem Proust das einzige Mal in seinem Gesamtwerk die Stadt Köln erwähnt – sieht man einmal ab vom Duftwasser „Eau de Cologne“. In „Les plaisirs et les jours“ („Freuden und Tage“), Prousts erster Veröffentlichung aus dem Jahre 1896, lautet eine Gedichtzeile: „Vers Cologne le Rhin roule ses eaux sacrées“ („Nach Köln hin wälzt der Rhein sein heiliges Wasser fort“).

Die Kölner Wertschätzung für den großen Franzosen findet ihren allgemein wahrnehmbaren Ausdruck auf der Marcel-Proust-Promenade. Als sie Ende Juni 2009 im Stadtwald eröffnet wurde, auf Initiative von Reiner Speck, dem Präsidenten der Marcel-Proust-Gesellschaft, war sie deutschlandweit die erste Straße, die den Namen des Dichters erhielt.    

Die Orientierung verliert man auf der Promenade zu keiner Zeit. Foto: Bücheratlas

Vom Spazierengehen ist in der „Suche nach der verlorenen Zeit“ oft die Rede. Da promenieren wir mit dem Ich-Erzähler am Atlantikstrand bei Balbec (dem realen Cabourg), auf dem Méséglise-Weg und auf dem Guermantes-Weg in Combray (dem realen Illiers-Combray), in den Gassen der „verzauberten Stadt“ Venedig und im Bois de Boulogne in Paris. Mal ist er allein unterwegs und mal in Begleitung, mal hängt er seinen Träumen nach und mal lässt er seine Gedanken schweifen, mal beobachtet er Passanten und mal erfreut er sich an der Natur. Nicht zuletzt tut ihm die Bewegung gut: Gerade „nach langen Stunden über einem Buch“ empfand sein Körper „das Bedürfnis, sich wie ein losgelassener Kreisel in alle Richtungen zu verausgaben.“

Zu alledem lädt die Marcel-Proust-Promenade ein. Sie beschreibt einen großen Halbkreis im Stadtwald, mit dessen Anlage 1895 nach einem Entwurf von Gartenbaudirektor Adolf Kowallek begonnen worden war. Das geschah zu jener Zeit, da Marcel Proust eine undotierte Stelle in der Bibliothèque Mazarine in Paris annahm. Allerdings war er in der ältesten Bibliothek des Landes – krankheitsbedingt – nur selten anzutreffen. Außerdem begann er in jenem Jahr 1895 den Fragment gebliebenen Roman „Jean Santeuil“. Dieses Werk empfiehlt Rudolf Steiert im Band 1 der Schriftenreihe „Sur la lecture“, herausgegeben von der Marcel-Proust-Gesellschaft, als einen möglichen Leseeinstieg für Proust-Anfänger: „Dieses (von ihm selbst verworfene) Frühwerk ist eine Art Vorstudie zur ‚Recherche‘, leichter zu lesen als diese und meines Erachtens zur Einstimmung gut geeignet (auch zum Weitermachen, nach meiner Erfahrung, wenn die Lektüre des magnum opus mal ins Stocken gerät.)“

Die asphaltierte Promenade zwischen Dürener Straße und Friedrich-Schmidt-Straße, auf dem Anfang der 1930er Jahre gelegentlich Motorradrennen veranstaltet wurden, führt durch Mischwald und über einen sehr sanften Hügel. An der Strecke liegen Tennisplätze, ein recht verwunschener Teich (mit einer kanalisierten Verbindung zum Kahnweiher nebst Wasserfontäne), eine Skaterbahn, eine Erinnerungsstafel für die ehemalige „Waldschenke“, die 1889 „tief im Wald auf dem tieferliegenden Teil der Volkswiese“ im sogenannten Villenstil errichtet worden ist, bald darauf der Tierpark und – wenn auch von Bäumen verdeckt und etwas distanziert – der Sitz der Marcel-Proust-Gesellschaft in der Brahmsstraße.

Ausblick vom Dreizehn-Linden-Platz Foto: Bücheratlas

Zweimal quert eine eingleisige Bahntrasse den Weg. Auf ihr werden allerdings nur gelegentlich Güterwaggons zwischen dem Niehler Hafen und Frechen bewegt, so dass Spaziergänger, Jogger, Hundehalter und Radfahrer kaum einmal ausgebremst werden. Wer einen Ausblick über Wiese und Baumwipfel hinweg wünscht, muss auf dem Scheitelpunkt des Hügels nur einen winzigen Abstecher zum „Dreizehn-Linden-Platz“ machen. Zwar sieht man hier weder „die feine Spitze des Glockenturms von Saint-Hilaire“, wie der Erzähler auf einem Spaziergang im Teilband „Combray“, noch die Spitzen des Kölner Doms. Schön ist es dort oben gleichwohl.

Proust-Leserinnen und Proust-Leser werden noch einen weiteren Aspekt zu würdigen wissen. Der Weißdorn nämlich, dessen „bitteren und süßen Mandelgeruch“ der Erzähler der „Recherche“ intensiv erlebt und der einige Male seine Erinnerung anregt, wächst auch entlang der Marcel-Proust-Promenade im Kölner Stadtwald.

Martin Oehlen

Adresse

Start und Ende der Marcel-Proust-Promenade liegen an der Kitschburger Straße in Köln-Lindenthal.

Literatur

Marcel Proust: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, dt. von Bernd-Jürgen Fischer, Reclam, 2013 ff.

Marcel Proust: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, dt. von Eva Rechel-Mertens und überarbeitet von Luzius Keller, Frankfurter Ausgabe, Suhrkamp, 2011.

Konrad Adenauer und Volke Gröbe: „Lindenthal – Die Entwicklung eines Kölner Vorortes“, Bachem, 2004.

Rudolf Steiert: „Sur la lecture“, Band 1, hrsg. von der Marcel-Proust-Gesellschaft, Köln 1995.

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