Literaturland NRW (3): Thomas Kling auf der Raketenstation Hombroich

Literarische Orte in Nordrhein-Westfalen besuchen wir in lockerer Folge: Schauplätze, Wohnorte, Institutionen. Diesmal sind wir auf den Neusser Spuren von Thomas Kling unterwegs.

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Wohnung mit Aussicht: Im ehemaligen Kontrollturm der Raketenstation in Hombroich verbrachte der Lyriker Thomas Kling seine letzten zehn Lebensjahre.  Foto: Bücheratlas

Die Natur ist  längst wieder da. Wo die Nato zwischen 1967 und 1991 eine Raketenstation in Neuss-Holzheim unterhielt, mit Abschussbasen und Atomsprengköpfen, legt das Grün  heute einen prächtigen Auftritt  hin. Zwar sind die Betonspuren der ehemaligen Militäreinrichtung noch allenthalben vorhanden. Doch ducken sie sich weg, so scheint es, unter Gräsern, Blättern, Wurzelwerk. Auch die Tierwelt fühlt sich offenbar willkommen.

Thomas Kling (1957 – 2005) hat das in seinen Gedichten „Raketenstation 1“ und „Raketenstation 2“ beschrieben. Er spielt darin an auf Wiesel, Karnickel, Bienen, auf „ausgeschlafene insekten die ein tänzchen wagen“. Inmitten „quatschender botanik“ stellt er den Bezug zur Nato-Vergangenheit her: „die codes sind irgend wie gewechselt“. Jetzt vernimmt man eben natürliches Summen statt militärischem Brummen am Rande der „Stadt N.“ Mit dem Hinweis auf die „elsterknarre“ verknüpft Kling Gegenwart und Vergangenheit des Areals. Dieses „ganze landschaftsding“ hat er später noch einmal ausführlich in „Eine Hombroich-Elegie“ behandelt.

Allerdings hat die Natur kein gänzlich freies Spiel. Denn nachdem die Nato 1990 das Weite gesucht und der Düsseldorfer Mäzen Karl-Heinrich Müller (1936 – 2007) vier Jahre später das Gelände gekauft hatte, ist dies auch ein Ort der Kultur. Mehrere Gebäude sind eigens zu diesem Zwecke errichtet worden. Vor allem bekannt ist die vom Japaner Tadao Ando entworfene und 2004 eröffnete Ausstellungshalle der Langen Foundation, die moderne und außereuropäische Kunst präsentiert. Auffallend auch das Archiv- und Bibliotheksgebäude nach Plänen von Erwin Heerich. Zuletzt ist 2017 das „Haus für Musiker“ des Architekten Raimund Abraham hinzugekommen.

Ja, und dann sind da noch die Künstlerwohnungen in den ehemaligen Baracken und Hallen. Am prickelndsten von allen umgewidmeten Immobilien: Der Kontrollturm, von dem das Gelände einst überwacht und gelenkt worden ist. Den hatte Thomas Kling im Jahre 1995 bezogen. Gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Ute Langanky, die weiterhin dort wohnt. Im Turmbunker befindet sich das nicht öffentlich zugängliche, aber online einsehbare Thomas-Kling-Archiv. Alles rundum ist sehr beschaulich: Vor dem Flachbau zu Füßen des Towers maunzt eine Katze, die endlich in die Wohnung eingelassen werden will. Die Vögel ringsum scheinen dies mit ihrem Gesang unterstützen zu wollen. Und in den Zweigen rauscht der Frühsommer.

Eine Idylle, genau. Aber der sollte man ja prinzipiell nicht trauen. Das hat Thomas Kling in seinen Gedichten durchblitzen lassen. Gefeiert als bedeutendster Lyriker seiner Generation und ausgezeichnet mit vielen Preisen, hat er stets die Vergangenheit im Blick gehabt: Antike und Mittelalter, Weltkriegszeiten und Zeitgeschichte. Auch die eigenen Lebensstationen finden sich in seinen Versen: Sei es die Herkunft aus Bingen im Rheingau („vers-/ offne rebn-düsternis“) oder der legendäre „Ratinger Hof“ in Düsseldorf, sei es der Pegel in Köln oder schließlich die Raketenstation in Neuss.

Thomas Kling war ein Archäologe der Sprache, wie es immer wieder heißt, ein Kartograph der Ausdrucksvielfalt, ein Sammler von Wortverwischungen wie „wissensi“ und „wespn“. Ein besonderes Erlebnis, geradezu eine Kunst für sich, waren seine Live-Auftritte: Da trug er seine Gedichte mal im martialischen Ton und mal im näselnden Singsang vor. Ob er jemals im Graubner-Pavillon rezitiert hat, der gleich nebenan, zehn Gehminuten entfernt von der Raketenstation auf dem weitläufigen Gelände des „Museum Insel Hombroich“ steht? Wir wissen es nicht. Aber die Vorstellung ist reizvoll: Die Akustik des Pavillons ist so ohrmuschelfüllend verdichtet, dass womöglich das Dach abgehoben hätte, wäre Thomas Kling hier in Fahrt gekommen.

Raketenstation und Museumsinsel wie zudem das Kirkeby-Feld gehören zur Stiftung Insel Hombroich. Das ganze Areal misst über 60 Hektar. Auch im „Museum Insel Hombroich“ sind wir auf eine nordrheinwestfälische Literaturspur gestoßen. Doch davon mehr bei einem anderen Mal.

Martin Oehlen

Hinweise

Die Raketenstation Hombroich in Neuss ist über die A 57 (Ausfahrt Neuss-Reuschenberg oder Neuss-Holzheim) und die A 46 (Ausfahrt Grevenbroich-Kapellen) zu erreichen. Am besten den Schildern zum Museum Insel Hombroich folgen. Einen Parkplatz gibt es vor der Raketenstation.

Von der Bushaltestelle „Museum Insel Hombroich“ sind es zehn Gehminuten bis zur Raketenstation.

Vom Bahnhof Neuss-Holzheim sind es 25 Gehminuten bis zur Raketenstation.

Literatur: Thomas Klings „Gesammelte Gedichte“ liegen in einem Band des DuMont Buchverlags vor, herausgegeben von Marcel Beyer und Christian Döring. Darin befinden sich die hier erwähnten Gedichte. Allerdings ist der Band aktuell vergriffen und nur im Antiquariat zu einem hohen Preis erhältlich.

Eine Neuausgabe von Thomas Klings Lyrik-Band „Sondagen“ erscheint Mitte Juni im Suhrkamp-Verlag. Darin ist „Eine Hombroich-Elegie“ enthalten. Im November soll dann ebenfalls im Suhrkamp-Verlag die vierbändige Werkausgabe erscheinen, die u.a. von Marcel Beyer herausgegeben wird.

Bisher haben wir im „Literaturland NRW“ vorgestellt:

Den Heinrich-Böll-Wanderweg in Much (HIER)

und die Kölner Orte der Irmgard Keun (HIER).

 

 

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