
Vor 20 Jahren hatte die Kölner Lesereihe „Ein Buch für die Stadt“ Premiere. Auf diesem Blog erinnern wir an die ausgewählten Bücher. Es sind allesamt Lesetipps. Die ersten Jahrgänge haben wir bereits vorgestellt. Die Links dazu gibt es am Fuße des Artikels. Nun beschließen sechs Titel den Revival-Reigen.
2018
„Vienna“ von Eva Menasse
Es ist ein Romanbeginn, wie man ihn sich nicht farbiger malen könnte: „Mein Vater war eine Sturzgeburt. Er und ein Pelzmantel wurden Opfer der Bridgeleidenschaft meiner Großmutter, die, obwohl die Wehen einsetzten, unbedingt noch die Partie fertigspielen musste.“ Eva Menasses „Vienna“ kombiniert historische Fakten und Fiktion mit autobiografischen Elementen. Auf diese Weise entsteht ein Panorama des vergangenen Jahrhunderts – von der Vorkriegszeit bis in die 1980er Jahre hinein. Da es sich um eine jüdische Familie handelt, bricht hier der Terror des Nationalsozialismus ein. Von der Mutter des Großvaters heißt es, ihr habe zur Emigration „die Kraft und das Problembewusstsein“ gefehlt: „Sie hat in Theresienstadt dann keine große Mühe mehr gemacht, denn sie überlebte die anstrengende Zugfahrt nur um zwanzig Tage.“ „Vienna“ war Eva Menasses Romandebüt. Weitere Werke der Österreicherin folgten. Zuletzt – genauer: zu Beginn des Monats November – erschien bei Kiepenheuer & Witsch ihr Essay „Alles und nichts sagen: Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne“.
2019
„Lügnerin“ von Ayelet Gundar-Goshen
Die Vielfalt der Lüge – das ist in „postfaktischen Zeiten“ ein nichts als aktuelles Thema. Die Israelin Ayelet Gundar-Goshen befasst sich damit in ihrem feinen Roman „Lügnerin” , der Variationen zum Thema anbietet. „Jeder Mensch lügt laut Statistik mindestens einmal am Tag“, sagte die Autorin – die auch als Psychologin tätig ist – im Matinee-Gespräch mit Joachim Frank vom Kölner Stadt-Anzeiger. Eine Lüge habe viele Funktionen, klärte sie auf. Eine davon sei der Wunsch nach mehr Beachtung. Wie das geht und was das bedeutet, schildert Ayelet Gundar-Goshen in ihrem Roman. Im Zentrum: Die Eisverkäuferin Nuphar aus Tel Aviv, die am Vorwurf der sexuellen Belästigung festhält, weil ihr auf diese Weise Aufmerksamkeit und Fürsorge zuteilwird. Aber wie lebt man mit einer solchen Lüge?
2020
„Der Garten der verlorenen Seelen“ von Nadifa Mohamed
Nadifa Mohamed wurde 1981 in Somalia geboren. Sie wanderte mit ihrer Familie nach London aus, als sie vier Jahre alt war. Der Roman „Der Garten der verlorenen Seelen” spielt während des Bürgerkriegs am Ende der 80er Jahre in Somalia. Im Gespräch mit Frank Olbert sagte die Autorin, ihr Heimatland sei damals „ein Land auf der Kippe“ gewesen. Es habe Ausgangssperren und Exekutionen gegeben, gleichzeitig habe sich die Regierung als Vorreiter des Sozialismus präsentiert. Drei weibliche Hauptfiguren führen durch diesen Polit-Abgrund: das Flüchtlingsmädchen Dequo, die Soldatin Filsan und die Witwe Kawsar. „Der Garten der verlorenen Seelen“, so sagte es die Autorin, sei „eine Geschichte über Außenseiter, über Menschen, die sich in ihren Gedanken verlieren und nach etwas zu suchen scheinen, das außer Reichweite liegt: Eine Art von Liebe, eine Art von Anerkennung, eine Art von Erlösung.“ Die Matinee mit Nadifa Mohamed – dies noch fürs Protokoll – fand pandemiebedingt nur im Netz statt.
2021
„Brüder“ von Jackie Thomae
Mick und Gabriel sind Brüder – aber sie wissen es nicht. Sie haben einen gemeinsamen Vater, der aus Afrika stammt und den sie beide nicht kennen. Dieser Idris hielt sich eine Weile in der DDR auf und hat mit zwei Frauen je ein Kind gezeugt. Was aus diesen Kindern geworden ist, erzählt Jackie Thomae in „Brüder“. Um es kurz zu machen: Es sind höchst unterschiedliche Lebensläufe zu bestaunen. Auf der einen Seite geht es hedonistisch zu, auf der anderen Seite karrierebewusst. Die Hautfarbe, sagte Jackie Thomae im Matinee-Gespräch mit Anne Burgmer, habe sie bei diesem Roman nicht sonderlich interessiert. Und schon gar nicht habe sie einen Rassismus-Roman im Sinn gehabt. Ihr sei es um zwei Lebensgeschichten gegangen – und um den Gedanken, dass alle Menschen „Brüder“ seien. Irgendwie.


2022
„Sechzehn Wörter“ von Nava Ebrahimi
Nava Ebrahimi wurde in Teheran geboren, ist in Köln aufgewachsen und lebt heute in Graz. An ihre Kölner Zeit hat sie intensive Erinnerungen. Auch an den Besuch der katholischen Grundschule. Das sei „total schräg“ gewesen, sagte sie, als einzige Muslimin in der Klasse. Doch sie sei gerne dort gewesen. Sie habe auch jeden Freitag den Schulgottesdienst besucht: „Ich war die einzige Schülerin, die nicht zur Kommunion gegangen ist. Aber ich habe immer aus voller Kehle die Lieder mitgesungen. Ich habe mich nie ausgegrenzt gefühlt.“ Auch die Romanheldin Mona Nazemi, die als kleines Kind aus dem Iran nach Köln gekommen ist, präsentiert sich „als hervorragend integrierte Migrantentochter“. In diese Vertrautheit platzt die Nachricht vom Tod ihrer imposanten Großmutter in Teheran. Von dieser Maman-Bozorg heißt es, dass sie „großzügig mit Liebe, verschwenderisch mit Verwünschungen“ gewesen sei. Mona tritt nun die Reise in den Iran an. Es wird eine Reise zur eigenen Identität, zu einem west-östlichen Kulturvergleich und zu einem monströsen Familiengeheimnis. Außerdem lernen wir in „Sechzehn Wörter“ ein paar Brocken Persisch.
2023
„Der nasse Fisch“ von Volker Kutscher
Zum 20-jährigen Bestehen der Aktion „Ein Buch für die Stadt“ wird ein Kriminalfall aufgetischt. Und zwar „hardboiled“. In „Der nasse Fisch“ hat Kommissar Gereon Rath seinen ersten Auftritt. Seit der Premiere vor 15 Jahren ist Autor Volker Kutscher aus der Erfolgsspur nicht mehr herausgekommen: Demnächst gibt es den finalen zehnten Fall, die Fernsehserie „Babylon Berlin“ beruht auf dieser Reihe, auch ein Hörspiel, ein Comic und ein Gesellschaftsspiel fußen darauf. Die Rath-Romane wurden durch die Verbindung von Spannung, Atmosphäre und Historie zu Bestsellern. Alles beginnt im Jahre 1929, als Gereon Rath – ein Mann mit „rheinischen Unregelmäßigkeiten“ – von Köln ins rauschhaft-zerrissene Berlin versetzt wird; enden wird die Reihe im Jahr 1938, wenn die Reichspogromnacht den endgültigen Zivilisationsbruch markiert. Dass unsere Gegenwart nicht mit der Weimarer Republik gleichzusetzen sei, machte Volker Kutscher bei der Eröffnungsmatinee am vergangenen Sonntag im Gespräch mit Anne Burgmer deutlich. Gleichwohl hält er es für dringend geboten, die Hände nicht in den Schoß zu legen, sondern sich für die vielfach bedrohte Demokratie ins Zeug zu legen. Eine „Faustregel“ des Autors: „Man sollte immer sein Gewissen einschalten.“ Zum Schluss noch dies: Das Schöne an diesem Jubiläumsbuch ist auch, dass es zurückführt in das Berlin der frühen 1930er Jahre, in das schon Doris in „Das kunstseidene Mädchen“ gereist ist – im ersten „Buch für die Stadt“.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben über die vorangehenden Jahrgänge berichtet.
Folge 1: Irmgard Keun, Italo Calvino und Haruki Murakami (HIER)
Folge 2: Orhan Pamuk, Rafael Chirbes und Kirsten Boie (HIER)
Folge 3: Jürgen Becker, Norbert Scheuer und Jovan Nikolić (HIER)
Folge 4: Sumaya Farhat-Naser, Assaf Gavron, Michael Köhlmeier und Jochen Schmidt (HIER)
Folge 5: Rafik Schami, Margriet de Moor und Anthony McCarten (HIER)
Zu einzelnen Büchern und ihren Autorinnen und Autoren gibt es Beiträge auf diesem Blog. Diese lassen sich leicht über die Suchmaske aufrufen.
Mitwirkende
„Ein Buch für die Stadt“ ist eine Initiative des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und des Literaturhaus Köln. Auf Seiten der Institution federführend: Jetzt Bettina Fischer, am Anfang Thomas Böhm, zwischendrin Insa Wilke. Und bei der Zeitung: Jetzt Anne Burgmer, am Anfang der Autor dieser Zeilen, zwischendrin Frank Olbert. Neben Literaturhaus und „Kölner Stadt-Anzeiger“ war und ist in der Jury der Kölner Buchhandel vertreten: Ehedem Klaus Bittner und aktuell Hildegund Laaff. Sehr wichtig für diese Initiative ist das Engagement der institutionellen und freien Veranstalter, die sich mit eigenen Programmen einbringen.