
Maman-Bozorg lässt es kräftig krachen. Schon zuhause im Iran scheut sie im Gespräch kaum einmal vor einer Schlüpfrigkeit zurück. Je intimer, desto lieber, möchte man meinen. Da verwundert es nicht, dass die alte Dame beim Besuch in Köln die Hüllen fallen lässt. Immer wenn sie bei ihrer ausgewanderten Familie zu Besuch ist, zieht sie sich morgens vor dem offenen Fenster an. Die Mahnung ihrer Enkelin Mona, dass doch jeder reinschauen könne, wenn sie barbusig dastehe, schreckt sie überhaupt nicht: „Na und! Hier ist doch Deutschland! Hier ist doch Azadi!“
„Azadi“ bedeutet Freiheit. Es ist eine der Vokabeln, die Nava Ebrahimis Roman als Kapitelüberschriften dienen. Dabei handelt es sich um sechzehn Wörter aus der persischen Muttersprache, die unsere Erzählerin Mona Nazemi eine Weile lang beharrlich „überfallen“ haben. Bis sich Mona daran macht, Wort für Wort zu übersetzen. Mit einem Schlag verlieren diese die Macht über sie. Indem Mona die Wörter annimmt, öffnet sie sich ihrer eigenen Identität.
Von Teheran über Köln nach Graz
Nava Ebrahimi erzählt davon in „Sechzehn Wörter“, ihrem fulminanten ersten Roman aus dem Jahre 2017, für den sie mit dem Debütpreis zum Österreichischen Buchpreis und dem Morgenstern-Preis des Landes Steiermark ausgezeichnet worden ist. Die Autorin wurde 1978 in Teheran geboren, lebte viele Jahre in Köln und ist mittlerweile wohnhaft in Graz. 2020 erschien ihr zweiter Roman: „Das Paradies meines Nachbarn“. Im vergangenen Jahr wurde sie mit dem Bachmannpreis in Klagenfurt geehrt.
Nun ist der Roman das „Buch für die Stadt“ in Köln und der Region. Anlässlich der Literaturaktion, die zum 20. Mal vom Literaturhaus Köln und dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ realisiert wird, liegt er als Sonderausgabe im btb-Verlag vor. „Sechzehn Wörter“ ist ein so aufschlussreicher wie origineller, so bewegender wie humorvoller Roman über ein Leben in und mit zwei Kulturen. Er handelt von Selbstfindung, Heimat und Integration. Als „Sechzehn Wörter“ zum „Buch für die Stadt“ ausgewählt wurde, gab es noch nicht den Aufstand, der jetzt den Iran erschüttert. Gewiss ist: Der aktuelle Kampf der Iranerinnen und Iraner um die Freiheit in ihrem Land macht die Lektüre nur noch fesselnder.
„Wir sind auf der Revolutionsstraße“
Nava Ebrahimi hat soeben im „Kölner Stadt-Anzeiger“, im Gespräch mit der Feuilleton-Leiterin Anne Burgmer, erläutert, dass der Protest seit Langem zum alltäglichen Leben im Iran gehöre: „Jede Frau, die auf die Straße geht, die nicht absolut regimetreu ist, lebt Widerstand, indem sie das Kopftuch ein bisschen weiter nach hinten schiebt, als es den Sittenwächtern gefällt.“ Auch werde alles, was vorislamisch sei, gefeiert und hochgehalten.
Doch der aktuelle Widerstand, sagt sie, habe eine neue Dimension. „Ich glaube, dass das, was wir jetzt erleben, sich nicht mehr rückgängig machen lässt. Ich kann nicht sagen, wohin es führen wird, aber ich bin relativ sicher, auch wegen der vielen jungen Menschen, die gestorben sind, dass die Menschen keine Kapazitäten mehr haben, diese Trauer noch wegzustecken.“ Auch wenn der Umsturz nicht heute oder morgen geschehe: „Wir sind auf der Revolutionsstraße.“
„Anstrengende On-Off-Beziehung“
Worum es in dem Roman geht? Erzählerin Mona Nazemi ist als kleines Kind aus dem Iran nach Köln gekommen. Sie präsentiert sich „als hervorragend integrierte Migrantentochter“ und geht „festen Schrittes ihren Weg“. In diese Vertrautheit platzt die Nachricht vom Tode ihrer Großmutter – eben jener schillernden Maman-Bozorg, die „großzügig mit Liebe, verschwenderisch mit Verwünschungen“ gewesen sein soll. Mona tritt nun gemeinsam mit ihrer Mutter die Reise in den Iran an – es wird eine Reise zur eigenen Identität, zu einem west-östlichen Kulturvergleich und zu einem monströsen Familiengeheimnis.
Mona sagt über ihre „anstrengende On-Off-Beziehung“ mit dem Geburtsland: „Das stört mich am meisten, wenn ich im Iran bin: dass ich wahr und unwahr manchmal nicht unterscheiden kann. In Deutschland macht mir niemand etwas vor.“ Erfrischend und erhellend ist die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Kulturkreise, des angeblich so sinnlichen Orients und des angeblich so nüchternen Okzidents, der blumig formulierenden persischen und der auf Direktheit getrimmten deutschen Sprache, des autoritären Staates dort und der Freizügigkeit hier.
„So sterben doch nur Deutsche“
Mit Monas westlichem Blick entdecken wird den Alltag im Iran – vom Permanent-Make-up bis zum Chaos im Straßenverkehr. In der Apotheke kaufen Frauen Anti-Depressiva und Männer Potenzmittel. Tragikomisch ist das siebentätige Trauerritual, in dessen Verlauf Monas Mutter klagt: „So sterben doch nur Deutsche, so allein vor dem Fernseher, einsame Deutsche, aber doch nicht meine Mutter, meine Mutter doch nicht.“ Und der Schatten der Tugendwächter liegt über allem.
Ganz am Ende des Romans radelt Mona dann ans Rheinufer in Köln. Mit ihrem Freund Jan und vielen Wörtern im Kopf. Dieses finale Kapitel trägt die Überschrift „Azadi“. Da wissen wir längst, dass das „Freiheit“ bedeutet.
Martin Oehlen
Die Stadtbibliothek Köln
präsentiert eine Online-Karte mit Orten und Geschichten von Autorinnen und Autoren, die mit Köln in Beziehung stehen. Dort findet sich auch ein Beitrag des Autors dieser Zeilen über Nava Ebrahimi: „Ich habe in Köln wirklich an jeder Ecke Erinnerungen.“ Der link dazu: Nava Ebrahimi – Wiener Weg 20 – Literatur in Köln (literaturinkoeln.de) .
Die Literaturaktion
„Ein Buch für die Stadt“ findet in Köln und der Region in der Zeit vom 13. bis zum 20. November 2022 statt. Das Programm gibt es unter www.bfds.ksta.de .
Auftritte von Nava Ebrahimi
Die Eröffnungsmatinee findet an diesem Sonntag, 13. 11. 2022, um 11.30 Uhr im Depot 1 des Schauspiel Köln (Schanzenstraße 6-20) statt; Nava Ebrahimi spricht dann mit Anne Burgmer. Die Autorin ist außerdem am 15. 11. 2022 um 19.30 Uhr in der Buchhandlung Köhl in Erftstadt zu Gast, am 16. 11. 2022 um 17 Uhr in der Literarischen Werkstatt im Bürgerhaus Kalk und schließlich am 17. 11. 2022 um 19 Uhr in der Stadtbibliothek Köln (Josef-Haubrich-Hof).
Die Jury
zum „Buch für die Stadt 2022“, der gemeinsamen Literaturaktion von „Kölner Stadt-Anzeiger“ und Literaturhaus Köln, bildeten Anne Burgmer, Bettina Fischer, Hildegund Laaff und Martin Oehlen.
Die Sonderausgabe
von Nava Ebrahimis Roman „Sechzehn Wörter“ erscheint im Verlag btb, 320 Seiten, 11 Euro.
