Von der ersten Lüge eines Kindes bis zur täglichen Lüge des Erwachsenen: Der Roman „Lügnerin“ von Ayelet Gundar-Goshen

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Hat das Kind hinterm Schleier etwas zu verbergen? Womöglich die Wahrheit? Auf solche Fragen kommt man, wenn man Ayelet Gundar-Goshen zugehört oder ihren Roman „Lügnerin“ gelesen hat.  Foto: Bücheratlas.

Lügen sind eine höchst ambivalente Sache: verwerflich auf der einen Seite, durchaus notwendig auf der anderen. Bei der Eröffnung der Leseinitiative „Ein Buch für die Stadt“ im Depot 1 des Schauspiel Köln sagte die Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen, deren wunderbarer Roman „Lügnerin“ in diesem Jahr im Zentrum der Aktion steht: „Jeder Mensch lügt laut Statistik mindestens einmal am Tag.“ Im Gespräch mit Moderator Joachim Frank, Chefkorrespondent des Kölner Stadt-Anzeiger, erzählte die Israelin vom Entstehen ihres Romans und vom Wesen der Lüge, ohne die der Mensch kein Mensch wäre. Eine Lüge habe viele Funktionen. Eine davon sei der Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit und Beachtung. Was die Protagonistin ihres Romans, die Eisverkäuferin Nuphar, eindrucksvoll unter Beweis stellt.

Die komplexbeladene 17-Jährige beschuldigt einen abgehalfterten Schlagersänger zu Unrecht des sexuellen Missbrauchs. Sie sonnt sich in den nächsten Monaten wohlig in der allgemeinen Anteilnahme. Manchmal erfinde man Dinge, um ein bisschen weniger allein zu sein, heißt es dazu im Buch. Eine Erkenntnis, die die Heldin mit der bald 90-jährigen Raymonde teilt – diese gibt sich zu Unrecht als KZ-Überlebende aus.

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Ayelet Gundar-Goshen Foto: Bücheratlas

Sie sei durch eine wahre Geschichte zu ihrem dritten Roman inspiriert worden, erzählt die Autorin. Eine befreundete Rechtsanwältin habe ihr von dem Fall eines illegalen Einwanderers erzählt, der wegen eines sexuellen Übergriffs vor Gericht gestanden habe. Doch das vermeintliche Opfer, eine junge Jüdin, habe sich als Lügnerin entpuppt. „Für meine Freundin war das junge Mädchen ein Monster“, sagte Ayelet Gundar-Goshen. Sie hingegen habe sich gefragt, was hinter dieser Geschichte stecke. „Warum greift jemand zu einer solch gewaltigen Lüge? In welcher Not mag das Mädchen gewesen sein, um so zu handeln?“

Die studierte Psychologin kennt sich von Berufs wegen hervorragend aus mit den Untiefen der menschlichen Psyche. „Mich interessiert nicht, was passiert ist, sondern warum jemand etwas getan hat. Welches Schicksal verbirgt sich hinter seiner glatten Fassade?“  Für die Recherche habe sie Freunde und Bekannte gefragt, wann die in ihrem Leben zum ersten Mal die Unwahrheit gesagt haben. „Die erste Lüge eines Kindes ist ebenso elementar wie sein erstes Wort. Sie zeigt, dass der Mensch nicht länger transparent, durchschaubar ist, sondern sich unabhängig macht von anderen Instanzen.“  Lügen erzählten oft mehr über einen Menschen als die Wahrheit, so ihre Erfahrung. Wenn einer ihrer Patienten zu lügen beginne, wisse sie sofort, dass sie einen wunden Punkt berührt habe. „Es ist wie eine rote Fahne, die gehisst wird, wenn es ans Eingemachte geht.“

Nuphars Fall wird im Roman „Lügnerin“ zu einem Medienereignis, das ganz Israel in Atem hält. Da denkt mancher womöglich sofort an die Debatte um Fake News. „Sind wir nicht mit daran schuld, wenn wir belogen werden“, fragt die Autorin. „Wir alle sind Geschichtsjunkies und süchtig nach aufregenden Stories, ob sie nun stimmen oder nicht.“ Selbst Politikern wie Donald Trump oder dem israelischen Staatspräsidenten Benjamin Netanjahu könne man nicht die alleinige Schuld an ihren Lügen zuschieben. „Wir müssen uns fragen, warum wir diese Politiker gewählt haben, und uns unserer eigenen Verantwortung und unserer Lust stellen, Lügen zu hören.“

Carsten Fiedler, Chefredakteur des Kölner Stadt-Anzeiger, lobte im Reigen der Begrüßungs-Ansprachen diese hohe Aktualität des Romans. Sehr zurecht. Titel wie diese sorgen für die Langlebigkeit der Lese-Aktion, auf die Literaturhaus-Chefin Bettina Fischer und Kölns Kulturdezernentin Susanne Laugwitz-Aulbach hinwiesen. So erklärte Bettina Fischer, dass kaum eine Stadt eine solche Lese-Aktion so lange durchgehalten habe wie Köln.

Petra Pluwatsch

Weitere Informationen

über die Leseaktion und Termine unter: www.ksta.de/buch-fuer-die-stadt

Ayelet Gundar-Goshen: „Lügnerin“, dt. von Helene Seidler, Kein & Aber, 336 Seiten, 14 Euro.

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