
Natalka Sniadanko klingt keineswegs verzagt, sondern entschieden realistisch, wenn sie sagt: „Es wird nie aufhören!“ In der Ukraine wachse mehr und mehr die Überzeugung, dass zwar der aktuelle Krieg einmal enden könnte. Doch der Konflikt mit Russland werde nicht verschwinden. „Mit so einem Nachbarn kann man nicht sagen: Es ist vorbei.“
Erzherzog kämpft für die Unabhängigkeit
Die Schriftstellerin, 1973 im ukrainischen Lwiw (Lemberg) geboren, war jetzt auf Einladung des Instituts für deutsche Sprache und Literatur an der Kölner Universität zu Gast. Dort stellte sie gemeinsam mit den Studierenden Felix Jüstel und Elisa Schüler ihren Roman „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ vor. Er ist bereits 2017 in der Ukraine, aber erst im vergangenen Jahr auf Deutsch im österreichischen Haymon Verlag erschienen.
Erzählt wird darin eine Geschichte aus der Geschichte. Im Zentrum steht der historisch nachweisbare Erzherzog Wilhelm Franz Joseph Karl (1895-1948) aus dem Hause Habsburg-Lothringen. Er setzte sich leidenschaftlich für die Unabhängigkeit der Ukraine ein und wurde in der Stalinzeit als Spion verhaftet. Die Umstände seines Todes in sowjetischer Gefangenschaft sind nicht vollends aufgeklärt worden. Der Roman endet mit dem Hinweis: „Wie alles wirklich war, wird keiner mehr erfahren, außer denen, die es immer gewusst haben.“ Ein Held der Ukraine ist der Erzherzog noch heute. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nahmen manche Nostalgiker sogar an, er könnte womöglich weiterhin am Leben sein.
„Die Welt ist nicht genug“
Der Historiker Timothy Snyder hat diesem Erzherzog Wilhelm im Jahre 2008 die Biographie „The Red Prince“ gewidmet, die auf Deutsch unter dem Titel „Der König der Ukraine“ erschienen ist. Für Natalka Sniadanko war das Sachbuch die entscheidende Anregung, einen Roman über den Mann zu schreiben, der sich auch als bisexueller Bonvivant einen Namen gemacht hat. Dabei hat sich die Schriftstellerin die Freiheit genommen, den Erzherzog weiterleben zu lassen und ihm die Enkelin Halyna, die er in Wahrheit nie hatte, an die Seite zu stellen. Entstanden ist ein Roman über zwei Weltkriege und über kulturelle Vielfalt, über diverse Identitäten und Sprachen, Lwiw und Lemberg, über das alte und das neue Europa. Bis in unser drittes Jahrtausend dehnt sich das Panorama. Das Motto des Erzherzogs: „Die Welt ist nicht genug.“ So überschreibt er seine Memoiren – „aber nicht“, lesen wir, „weil er James-Bond-Filme mochte, sondern weil es das Familienmotto der Habsburger gewesen war.“
Zumal der Alltag der Menschen habe sie interessiert, sagt die Autorin, nicht zuletzt der Alltag der Frauen. Leider mangele es an einschlägigen Memoiren. Oft habe offenbar die Einstellung vorgeherrscht: „Ich habe doch nichts zu erzählen.“ Daher habe sie viel recherchieren müssen. Und jedes Mal, wenn sie aus ihrem Roman lese, finde sie etwas, das sie verbessern möchte. „Schreiben ist das Anstrengendste, was man in der Kunst machen kann.“ meint Natalka Sniadanko. „Ich würde niemandem, der es sich leichtmachen will, das Schreiben empfehlen.“
„Das einzig Gute, das der Krieg bringt“
Die Ukraine habe sich in den Jahren vor dem russischen Überfall deutlich verändert, sagt Natalka Sniadanko im Gespräch, das selbstverständlich auch auf das aktuelle Geschehen einging. Die Fortschritte, die erzielt worden seien, könnten nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Zivilgesellschaft zahle einen so hohen Preis für ihre Unabhängigkeit, meint sie, dass sie nicht zu Konzessionen bereit sei. „Das einzige Gute, das der Krieg bringt, ist die Ukrainisierung der Ukraine.“ Das gelte auch für die ukrainische Sprache, zu der sich nun auch solche Familien bekennen, in denen zuvor russisch gesprochen worden sei: „Das ist eine politische Entscheidung.“
Natalka Sniadanko befürwortet vor diesem Hintergrund den Boykott der russischen Kultur und ihrer Vertreter. Ja, Sanktionen treffen auch unschuldige Menschen. Daher sei ein Boykott vielleicht nicht das beste Mittel, aber sie kenne momentan kein anderes, um in ihrem Bereich auf den Krieg zu reagieren. Es sei einem Künstler aus der Ukraine nicht zuzumuten, sich – beispielsweise – auf einer deutschen Bühne neben einen russischen Kollegen zu setzen, um über den Krieg zu diskutieren. „Ich habe diese Diskussionen satt“, sagt Natalka Sniadanko im verbindlichen Ton, „denn sie führen zu nichts.“ Da gebe es nämlich einen fundamentalen Unterschied: In dem einen Land fallen Bomben, in dem anderen nicht.
Abschied von der russischen Dominanz
In der Ukraine sei man es seit langer Zeit gewohnt gewesen, dass die russische Kultur bevorzugt werde. Das ändere sich nun. Dazu leistet auch Natalka Sniadanko einen Beitrag. Allerdings nicht erst seit dem russischen Angriff, sondern schon zuvor. So hat sie Werke von Franz Kafka, Günter Grass und Herta Müller aus dem Deutschen ins Ukrainische übersetzt. Bemerkenswert daran ist, dass es sich um Erstübersetzungen handelte – zuvor gab es in der Ukraine nur russischsprachige Ausgaben.
Die Zeit der russischen Kolonialherrschaft sei vorbei, mein Natalka Sniadonka. Darum gehe es jetzt: „Wir müssen die Optik ändern.“
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
finden sich einige Beiträge, die in Zusammenhang mit dem russischen Krieg in der Ukraine stehen – eine literarische Solidaritätsinitiative von Kölner Autorinnen und Autoren gibt es HIER , die eintägige Übernahme des Instagram-Accounts der Frankfurter Buchmesse durch Olia Zhuk gibt es HIER, die Plakatausstellung „Ukraine: gestern und heute“ gibt es HIER.
Natalka Sniadanko: „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“, dt. von Maria Weissenböck, Haymon Verlag, 424 Seiten, 25,90 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
