
Martin Hielscher ist immer ganz vorne dabei, wenn es um einen neuen Roman von Norbert Scheuer geht. Der Programmleiter Belletristik beim Verlag C. H. Beck arbeitet schon seit fast 20 Jahren als Lektor mit dem Autor aus Keldenich (Gemeinde Kall, Urftland, Eifel) zusammen. Den Austausch über die bislang neun gemeinsam auf den Weg gebrachten Romane bezeichnet Martin Hielscher jetzt als „produktives Tauziehen“. Es sei ein Ringen und gelegentlich ein Kampf. „Dieser Streit kann sich über Monate und zahlreiche Fassungen eines Textes hinweg entfalten und anhalten, er kann dabei über weite Strecken freundlich, schlagfertig, nachdenklich, ernsthaft, dann wieder frotzelnd, gar frech geführt werden, er kann auch schärfer werden, zugespitzter, ja gelegentlich zu einer Erschöpfung führen, kurz vor der Verzweiflung.“
„Les Abeilles d’hiver“ in Cognac
Kunst ist eben auch Arbeit. Doch was zählt, ist das Ergebnis. Norbert Scheuer ist, wie weithin bekannt ist, einer der herausragenden Schriftsteller im deutschsprachigen Raum. Und womöglich ist er es demnächst auch jenseits der Sprachgrenze: Gerade erst erhielt er für seinen ersten ins Französische übersetzten Roman „Les Abeilles d’hiver“ („Winterbienen“) den Publikumspreis beim Festival „Littératures européennes à Cognac“. Der Autor hat also einigen Grund zum Feiern – zumal er an diesem 16. Dezember auch noch seinen 70. Geburtstag begeht.
Diese biografische Denkwürdigkeit ist der Anlass für die Anthologie „Schatten aus den Felswänden“, die Andreas Erb und Christof Hamann im Wallstein-Verlag herausgegeben haben. Darin findet sich auch Martin Hielschers Blick in die Schreibwerkstatt. Zudem versammelt der Band Aquarelle, Erinnerungen, Interpretationen, ein Gespräch, Zeichnungen, Verse, Beobachtungen, Fotografien und Collagen von Weggefährten, Künstlerkollegen, Literaturwissenschaftlern und Literaturkritikern, darunter auch – es muss ja als Subjektivitäts-Hinweis erwähnt werden – der Autor dieser Zeilen.
Nina Plisson meldet sich zurück
Zudem und ganz und gar nicht zuletzt haben Ehefrau Elvira und Tochter Philomena Aufnahmen und Sohn Erasmus ein Porträt beigesteuert. Schließlich kommt der Jubilar als Autor selbst zu Wort. Mit zwei bislang unveröffentlichten Gedichten. Und mit einem Auszug aus seinem nächsten Roman. Da gibt es ein Wiedersehen mit Nina Plisson aus dem Roman „Am Grund des Universums“ (2017), die von alten Bekannten erzählt und in deren Tintenklecksen die Welt sich spiegelt.
Das ergibt alles in allem eine ausgewogene Mischung aus Anekdotischem und Analytischem. Insgesamt sind es 32 Kapitel plus Vorwort und Anhang.
Wenn Kall zu K-All wird
Michael Braun stellt fest, dass die Eifel lange Zeit in Romanen „weitgehend unbehandelt geblieben“ sei, wenn man einmal von Alfred Anderschs „Winterspelt“ und Jürgen Beckers „Schnee in den Ardennen“ absehe. Unbehandelt – bis Norbert Scheuer aufgetreten sei. Der Autor erzähle „nah und dicht an den Dingen, die ihn umgeben, aber fern und frei genug, um ihnen eine neue, eine fiktionale Wirklichkeit zuzugestehen“. Geprägt werde diese Wirklichkeit, so Michael Braun, von „postheroische(n) Helden“.
Da kommen wir gerne noch einmal auf Martin Hielschers Würdigung zu sprechen. Denn er schreibt über die Menschen in dem fiktiven Kall, für das er die famose Schreibvariante„K-All“ wählt, dass sie zwar die Schönheit sehen, aber nicht in ihr leben können: „Sie bleiben in ihrem Begehren, in ihrer Suche, in ihren Beschädigungen und Obsessionen gefangen und von einem Aufgehobensein in einer erlösenden, befriedigenden Ordnung ausgeschlossen.“
Das Meer in der Eifel
Dass Norbert Scheuer vieles von dem, was die Welt zu bieten hat, auch in der Eifel vorfindet, haben wir schon immer vermutet. Nun erbringt Andreas Erb den Nachweis in der Schilderung seiner Reiseerfahrungen mit dem Schriftsteller. Von einer Lesereise rund um die Krim heißt es: „Bemerkenswert war zudem, dass Norbert überall die Eifel zu entdecken glaubte. Jeder Steinbruch, jedes Zementwerk, eine geologische Formation hier, ein landwirtschaftliches Anbaugebiet dort – und selbst das Meer war nicht mehr als der Hinweis auf die (prähistorische) Eifel (…).“ Nicht anders die Reaktionen in Istanbul und Ouagadougou.
Die Welt ist eben auch nicht viel größer als das Kall, das der Schriftsteller Norbert Scheuer findet und erfindet. Kall ist K-All.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
gibt es zahlreiche Beiträge von und über Norbert Scheuer, die leicht über die Suchmaske aufzuspüren sind.
Zuletzt gab es einen Beitrag über eine Benefizveranstaltung in Norbert Scheuers Garten anlässlich der Flutkatastrophe vom Juli 2021, die auch Kall schwer beschädigt hat – und zwar findet sich der Beitrag HIER.
Zuvor gab es unter anderem einen Zweiteiler, in dem Norbert Scheuer auf Fragen zu Dichtung und Wahrheit antwortete, zur Explosion auf dem Kalvarienberg in Prüm und zu seiner Wilhelm-Raabe-Dankesrede – und zwar HIER und HIER.
Andreas Erb und Christof Hamann (Hrsg.): „Schatten aus den Felswänden – Eine Hommage an Nobert Scheuer und die Eifel“, Wallstein, 256 Seiten, 29,90 Euro. E-Book: 23,99 Euro.
Mit Texten von Norbert Scheuer, Gerrit Bartels, Bernd Bohmeier, Michael Braun, Michael Eggers, Norbert Otto Eke, Andreas Erb, Christof Hamann, Martin Hielscher, Lena Hintze, Sandra Hoffmann, Christof Leisten, Martin Neef, Jürgen Nendza, Stefan Neuhaus, Martin Oehlen, Rolf Parr, Frank Schablewski, Christoph Schröder, Kathrin Schuchmann, Alexander Weinstock, Lutz Werner, Hubert Winkels.
Mit künstlerischen Arbeiten und Fotografien von Theo Breuer, Andreas Erb, Franz Peters, Mario Reis, Peter Riek, Elvira Scheuer, Erasmus Scheuer, Philomena Scheuer, Dietrich Schubert.
