„Eine Biografie ist wie eine Kleidung“: Norbert Scheuer über seine Eltern, die Explosion auf dem Kalvarienberg und seine Raabe-Rede (II)

Norbert Scheuer ist ein sehr freundlicher Zeitgenosse. Die Fragen, die wir ihm per Mail geschickt haben, hat er ausführlich beantwortet. Anlass dafür war seine Dankesrede zum Raabe-Preis, die jetzt im Wallstein-Verlag mit allerlei deutender Begleitung veröffentlicht worden ist – siehe HIER . Darin wird auf eine Vermischung von Fakten und Fiktionen in der Rede aufmerksam gemacht. Gleichwohl bleibt dort offen, was der Autor dazu zu sagen hat.

Die Katastrophe am Kalvarienberg in Prüm auf einer Informationstafel im Naturpark Nordeifel Foto: Bücheratlas

Herr Scheuer, als Ihnen vor einem Jahr der Wilhelm-Raabe-Preis überreicht wurde, hielten Sie eine Dankesrede. Darin erzählten Sie von der Explosion auf dem Kalvarienberg in Prüm am 15. Juli 1949, bei der Ihr Vater ums Leben gekommen sei. Da Sie am 16. Dezember 1951 geboren wurden, also 29 Monate später, war die Verwunderung groß. Hubert Winkels hat diese jetzt in dem Band „Norbert Scheuer trifft Wilhelm Raabe“ in Worte gefasst.

Die Verwunderung während und unmittelbar nach der Rede war nicht besonders groß. Man war eher ergriffen über diese ganz andere Form einer Dankesrede. Die Explosion im Jahre 1949 ist ein kleines lokales Ereignis gewesen, das in meiner Familie und in der Region eine gewisse Bedeutung hatte. Ich behaupte, dass niemand im Publikum an der als Biografie daherkommenden Erzählung zweifelte.

Es ist für mich auch eine Erzählung, da der Vortrag als Erzählung aufgebaut war, schon alleine die Verknüpfung mit einem Roman von Wilhelm Raabe, die Anlehnung an Elemente der Romanstruktur vom „Stopfkuchen“ legt das nahe. Ich beabsichtigte in meiner Dankesrede in gewisser Weise in die Rolle die Figur Heinrich aus dem Roman „Stopfkuchen“ zu schlüpfen. Ich hatte vorher einige sehr schöne Dankesreden zum Raabepreis gelesen und wollte daher etwas Neues machen. Ich bin damals also nicht davon ausgegangen, dass die Inkongruenz zwischen meinem Geburtsdatum und dem historischen Ereignis eine Rolle spielen und großes Interesse wecken würde.

Gerade die Diskrepanz zwischen meinem Geburtsdatum (1951), das ja jedem zugänglich ist und dem tatsächlichen historischen Ereignis (1949) ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass die Biografie nur erfunden sein kann. Aber sie ist eben doch nicht nur erfunden, sondern eine Vermischung von Realität und Erfundenem. Übrigens glaube ich, dass wir nirgendwo authentischer und wahrhaftiger sind als in den Geschichten, die wir uns erzählen, das gilt für die Geschichten im Alltag, als auch für die Literatur.   

Für mich hat die Explosion, bei der, wie in meiner Rede beschrieben, ein Berg explodierte und mein Geburtsort in einem Staubregen versank, eine gewisse Bedeutung. Es ist ein Ereignis, das in meinen Geschichten beiläufig erwähnt wird, auch in meinem neuen Erzählband findet es einen Platz. In der Rede wird zudem die Frage nach der Wirklichkeit ganz explizit gestellt, weshalb die Form der Rede eine weitere Rechtfertigung erfährt.

„Hals über Kopf den Ort verlassen“

Wie kamen Sie auf die Idee, diese dramatische Explosion in Ihre Biographie zu integrieren?

Meine Mutter hat oft davon erzählt, wie das Gerücht im Ort die Runde machte, dass es in dem Bunker ganz in der Nähe von Prüm brennen würde, etc. Sie hatte schließlich mit meinem älteren Bruder Hals über Kopf den Ort verlassen. Sie erzählte, dass so viel Staub herabgeregnet sei, dass sie wie im Dunklen herumtappten. Was die Explosion ausgelöst hat und wer dahintersteckte, ist niemals aufgeklärt worden.

Nun gibt es im „Stopfkuchen“ von Wilhelm Raabe auch ein Rätsel, einen Mord, der nicht aufgeklärt wurde. Heinrich Schaumann erzählt im Roman einem aus der Fremde zurückgekehrten Jugendfreund (Eduard) immer wieder Geschichten, die damit beginnen, dass er um das Geheimnis eines Mordfalles aus ihrer Jugend wisse, der auch den Zuhörer (Eduard) interessiert, denn das Mordopfer ist ein guter Bekannter aus der Jugend. Über dieses Geheimnis gelingt es Heinrich immer wieder die Aufmerksamkeit von Eduard auf seine Erzählungen zu lenken. Eduard muss zuhören, um am Ende das Geheimnis zu erfahren. Heinrich kann so auch über die Kränkungen berichten, die ihm in seiner Jugend zugefügt worden.

Ich weiß natürlich, dass der „Stopfkuchen“ viel komplexer ist, aber ich habe mir unter anderem diese Erzählstruktur aus dem Stopfkuchen zu eigen gemacht und gehofft, dass dieser Kunstgriff auffallen würde.

„Genug Anlass zum Nachdenken“

Eine Dankesrede ist kein Roman. Droht nicht das Ende des Diskurses, wenn unklar ist, ob etwas real oder erfunden ist?

Es stimmt, eine Dankesrede ist kein Roman, aber sie ist auch keine wissenschaftliche oder politische Rede, sondern sie ist nach meinem Verständnis eine Rede, in der der Autor sich für die Ehrung artig bedankt und in diesem Fall auch einen Bezug zu dem Autor Wilhelm Raabe herstellen sollte. Und wenn möglich könnte auch etwas Augenzwinkern hinzugefügt werden, etwas das Anlass zum Nachdenken gibt.

Bezüge zu Wilhelm Raabe gibt es in meiner Rede in vielfältiger Weise, sie gehen so weit, dass der Redner eine Romanfigur von Raabe adaptiert, auf seiner Reise macht er einen Zwischenstopp in einem Ort, in dem eine Geschichte von Raabe spielt und er schreibt dort an seiner Rede. Und, dass es genug Anlass zum Nachdenken gibt, beweist der sehr schöne Aufsatz von Hubert Winkels und Ihre Fragen zu der Rede.

„Ich habe meine Biografie angepasst“

In dem Wallstein-Band zur Raabe-Preis-Verleihung wird auf die Erregung um Robert Menasse verwiesen. Der österreichische Autor hatte in öffentlicher Debatte ein erfundenes Faktum angeführt und dieses Vorgehen zunächst zu rechtfertigen versucht. Sehen Sie da eine Parallele zu Ihrer Vater-Erzählung?

Es ist gibt eine Parallele, aber auch einen ganz bedeutenden Unterschied. Robert Menasse, den ich übrigens sehr schätze, hat in seinem Roman einen historischen Tatbestand umgedeutet oder – wenn man so will – geändert. Er hat einer zeitgeschichtlichen Person ein Zitat zugeschrieben. Ich habe jedoch in meiner Rede nichts an den historischen Fakten geändert, sondern meine Biografie in der Dankesrede an ein historisches Ereignis angepasst. Biografien müssen nicht unbedingt wahr sein, welche Biografie eines Politikers, einer historischen Persönlichkeit entspricht schon Wahrheitskriterien. Sie ist vielmehr zumeist so etwas wie eine Kleidung, mit der man in der Öffentlichkeit auftritt.

Vielleicht sollte ich einen Roman darüber schreiben

Am Ort der Explosions-Katastrophe von 1949 befindet sich ein Denkmal. Foto: Bücheratlas

„Was war wirklich geschehen?“ heißt es einmal in Ihrer Rede. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Ihrer Familie und der Nachkriegs-Katastrophe in Prüm? 

Es gibt ganz viele Zusammenhänge, manche, von denen ich weiß oder sie auch nur erahne, und andere, von denen ich nichts weiß. Es bleiben oft nur einzelne Sätze oder Bilder und Vorstellungen. Es gibt Andeutungen meiner Mutter, die hinter der Theke ihrer Gaststätte gestanden hat und die Feuerwehrmänner bediente, die vom Löscheinsatz kamen, Beamte, die an diesem Tag an der Theke standen, Waldarbeiter und Bauern, die vorbeikamen, während das Feuer im Berg schwelte, und es gibt Vermutungen, wer hinter dem Brand und der Katastrophe steckte.

Vielleicht sollte ich doch mal einen Roman darüber schreiben. Aber bis jetzt habe ich das Gefühl, dass eine derartige Geschichte zu lokal sein würde, und ich habe auch zu viele andere Ideen… Aber vielleicht ändert sich das noch. Vielleicht werden mich Ihre Fragen auf eine Idee bringen.

Dank an die Väter für das Seil und die Abgründe

Am Ende des Romans „Kall, Eifel“ danken Sie ihrem Vater. Was wissen Sie von Ihrem leiblichen Vater? Wofür sind Sie Ihrem Stiefvater vor allem dankbar?

Das Schreiben von Geschichten gelingt einem m.E. nur durch ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen Wirklichkeit und Imagination. Vielleicht ist es mit einem Seiltanz vergleichbar, das Seil ist der einzige Ort, um von der Rathausspitze zum Kirchturm zu gelangen und jeden Moment muss man gespannt sein, das Gleichwicht zuhalten, auf seine Schritte achten, damit man nicht in einen Abgrund abstürzt. Die Schritte sind die Worte und Sätze. Ich danke diesen Männern also für das Seil und die Knoten an den Anfangs- und Endpunkten meiner Erzählungen und ich danke ihnen für die Abgründe und schönen Ungewissheiten dazwischen.

„Meine Mutter kommt wahrscheinlich in jeder Frau vor, über die ich schreibe“

Und noch eine indiskrete Frage: Welche Rolle spielte Ihre Mutter in ihrem Leben, womöglich für Ihr Schreiben?

Ich finde die Frage nicht indiskret, warum sollte eine Frage nach einer Mutter indiskret sein? Ich beantworte sie gerne, weil ich sie mir selbst noch nie gestellt habe. Wahrscheinlich beantworte ich mir alle meine Fragen, indem ich Geschichten schreibe, auch die Frage nach der Rolle meiner Mutter. Wahrscheinlich kommt sie in jeder der Frauen, über die ich schreibe, irgendwie vor, aber welche Bedeutung sie letztendlich für mein Schreiben hat, kann ich nicht beantworten.

Ich habe ja mal Philosophie studiert, weil ich dachte man könnte über das Denken letzte Probleme lösen und es gebe eine rationale Enträtselung der Wirklichkeit und der Welt. Irgendwann meinte ich dann festgestellt zu haben, dass es vielleicht nur die Notwendigkeit gibt, an diese rationale Strategie zu glauben, damit wir als Menschen überhaupt existieren können. Bei anderen Lebewesen geht es scheinbar auch ohne diesen Aufwand. Die Lösung aller Fragen steckt vielleicht eher in den Geschichten selbst, in dem, was in ihnen verschwiegen wird, deswegen ist Literatur so unglaublich interessant. 

„Wir wissen nicht, wer wir sind“

In ihren Romanen ist die Mischung von historischen Fakten und schriftstellerische Phantasie eine Selbstverständlichkeit. Wie wichtig ist es, eine reale Ausgangsbasis zu haben – Personen, Orte, die Sie kennen?

Ich kann mir keine Geschichte ohne reale Ausgangsbasis vorstellen. Eine solche Geschichte wäre doch vielmehr so etwas wie mathematische Geometrie, eine rein abstrakte Veranstaltung. Dann könnte man auch statt Geschichten zu schreiben Formeln konzipieren. Die Geschichten wären dann auch viel kürzer, man hätte sie schneller gelesen und würde nicht so viel Druckerschwärze und Papier vergeuden. Ich kann mir keinen Schriftsteller vorstellen, der ohne Bilder zurechtkommt, die er in seinem Leben gesammelt hat und die er dann nach einem geheimnisvollen, ihm selbst wahrscheinlich unerklärbaren, Prinzip verändert, kombiniert und am Ende, wenn ihm dies einigermaßen gelungen ist, eine Geschichte herauskommt, die mehr über den Autor aussagt als jede Biografie.

Im Grunde wissen wir doch nicht, wer wir wirklich sind, denn unsere Identität, wenn man sie als die Summe unserer Erfahrung begreift, beginnt mit der Verschmelzung von Samen und Eizelle im Mutterleib, unser Erinnerungsvermögen beginnt mit dem Erlernen der Sprache und 99 Prozent dessen, was wir erlebt haben, vergessen und verdrängen wir. Vielleicht gibt es von all dem Vergessenen noch Spuren in uns und vor diesem Hintergrund beginnt man eine Geschichte zu schreiben. 

„Ich lasse mich einfach treiben“

Welche Rolle spielt die Phantasie? Geht es darum, auf Distanz zum historischen Geschehen zu gehen, oder geht es darum, das historische Geschehen durch Weiterungen und Zuspitzungen zu verdeutlichen? Oder haben Sie ganz anderes im Sinn?

Ich will ihnen ehrlich antworten, denn ich könnte jetzt auch schreiben, dass ich mit meinen Geschichten irgendein hehres Ziel verfolge. Aber das tue ich nicht, ich habe irgendwann angefangen zu schreiben, weil mich der erste Satz und der zweite Satz und der dritte Satz …   einfach glücklich machte – in dem Sinne wie ein Schreiner glücklich ist, wenn er ein Möbelstück baut, oder ein Redakteur, wenn er einen interessanten Artikel schreibt. Ich lasse mich einfach treiben. Was ich dabei denke, ist einfach Teil der Tätigkeit. Ich vertraue auf meine Phantasie wie ein Handwerker auf seine Hände, der Redakteur auf seine Recherche.

Ich glaube allerdings, dass sich in dem, was am Ende herauskommt, Analogien und Strukturen zeigen, die sich auf das, was wir als unsere Lebenswirklichkeit bezeichnen, abbilden lassen. Sie lässt sie in einem anderen Licht erscheinen, aber das ist von mir nicht intendiert, es würde mein Geschichtenerzählen auch zunichtemachen.

Mit Ninas Klecksen in die Zukunft

Wohin wird uns Ihr nächster Roman führen? In welchen Ort, in welche Zeit, zu welcher Hauptperson?

Ich weiß nicht genau, ob das, was ich im Moment schreibe, überhaupt ein Roman wird. Ich wollte immer dem Prosaband „Kall, Eifel“ einen zweiten Band folgen lassen, am liebsten mit dem Titel „Kall, Eifel II“. Aber daraus wird wahrscheinlich nichts werden. Man sollte auch nicht versuchen sich zu wiederholen.

Sie können sich sicher denken, dass die Geschichten wie immer alle in Kall spielen und sie wie in „Kall, Eifel“ miteinander verwoben sind. Sie werden von einem Mädchen erzählt, das bereits in „Am Grunde des Universums“ eine Rolle spielte. Das Mädchen heißt Nina und sie zeichnet und kritzelt ihre Geschichten in Schulhefte, später versucht sie das zu entziffern, macht Geschichten daraus.

Ob das Wahrheit oder Fiktion ist, können sie mich nach dem Erscheinen fragen. Die Protagonistin macht beim Schreiben mit einem Füllfederhalter Kleckse, aus diesen Klecksen entstehen jedoch bald rätselhafte Bilder, die mit den Texten korrespondieren, sie erscheinen mir, wie aus den hinter den Klecksen versteckten Worten hervorgegangen.

Die Fragen stellte Martin Oehlen

Den Roman „Winterbienen“, der zuletzt erschienen ist, stellen wir HIER vor.

Den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2020 hat Christine Wunnicke erhalten, deren jüngsten Roman, „Die Dame mit der bemalten Hand“, wir HIER besprochen haben.

Den Band Norbert Scheuer trifft Wilhelm Raabe“ aus dem Wallstein-Verlag stellen wir auf diesem Blog vor – und zwar HIER .

2 Gedanken zu “„Eine Biografie ist wie eine Kleidung“: Norbert Scheuer über seine Eltern, die Explosion auf dem Kalvarienberg und seine Raabe-Rede (II)

  1. Lieber Martin Oehlen, vielen Dank für die Möglichkeit in ihrem Blog auf den Aufsatz von Hupert Winkels reagieren zu können. Ich hatte den Aufsatz natürlich mit viel Interesse gelesen und war begeistert von seiner Analyse, hatte aber keine Sekunde daran gedacht dazu öffentlich Stellung zu nehmen. Das liegt wohl auch daran, dass ich zur Zeit zu sehr mit meinem neuen Projekt beschäftigt bin und es wohl schwerer ist die richtigen Fragen zu stellen, als eben diese Fragen dann zu beantworten. Ihre Fragen haben mich also erst aufgerüttelt und dazu gebracht explizit über die von Ihnen und Hubert Winkels angesprochenen Themen nachzudenken.

    Herzliche Grüße Ihr Norbert Scheuer

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