
Als Norbert Scheuer im November 2019 in Braunschweig den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis für seinen Roman „Winterbienen“ überreicht bekommt, hält er eine beeindruckende Dankesrede. Zumal eine Passage hat es in sich. Da schildert der Autor einen Katastrophentag im Juli 1949 in Prüm, als ein Munitionslager auf dem Kalvarienberg explodierte. Zwölf Menschen kamen ums Leben, die Stadt in der Eifel wurde schwer beschädigt. Noch heute ist der Krater ein Ausflugsziel.
Scheuer sagt in der Rede, dass sein Vater zur Wachmannschaft des Waffenlagers gehört habe. Als die Brandglocken ertönten, sei seine Mutter, die mit ihm schwanger gewesen sei, sofort losgelaufen. Dann fährt der Redner fort: „Der Geliebte meiner Mutter, mein Vater, war mit den drei anderen Wachmännern seither spurlos verschwunden. Es kann sein, dass er auf unserer Flucht als Staubpartikel auf uns herabregnete, wir ihn eingeatmet haben, oder vielmehr meine Mutter, denn ich war ja noch nicht geboren und schwamm in ihrem Bauch, als sie aus der Stadt floh.“
Was für eine Geschichte! Mit einer besonderen Pointe: Die Katastrophe ereignete sich am 15. Juli 1949, doch Norbert Scheuer wurde erst zwei Jahre später in Prüm geboren, am 16. Dezember 1951.
Die Rede und ihren speziellen Moment würdigt nun der Band „Norbert Scheuer trifft Wilhelm Raabe“, den Hubert Winkels im Wallstein-Verlag herausgegeben hat. Winkels schreibt: „Der männliche Embryo inkorporiert den toten Vater im Leib der ihn inkorporierenden Mutter.“ Bei solch „befremdlich nüchtern kolportierter Psychoanalyseverdichtung mit höchstem Wallungswert“ habe dem Publikum kurz der Atem gestockt.
Wohl nicht wenige meinten hier ein authentisches Bekenntnis zu vernehmen – und nicht eine Geschichte. So ist es der Literaturkritikerin Marie Schmidt ergangen: In ihrem Beitrag über „Bienen und Bomber“, der in dem Raabe-Band abgedruckt ist, beruft sie sich auf die Vater-Passage als historische Tatsache. Winkels fragt sich, was von der Fiktion in öffentlicher Rede zu halten ist: „Darf der Autor das?“
Neben dieser intensiven Ausleuchtung bietet der Band der Wallstein-Reihe, die sich alle Jahre wieder dem Raabe-Preis widmet, zahlreiche Materialien für Leserinnen und Leser des Kall-Kosmos von Norbert Scheuer. So liefern Dietrich Schubert und Katharina Schubert eine Nahaufnahme des Autors: „Die Welt in der Provinz entdecken“. In ihrem Beitrag findet sich auch dieser Hinweis: „Er benutzt die Realität ‚als Material‘. Seine Geschichte kann auf realen Erlebnissen beruhen und dennoch reine Phantasie sein.“ Anschließend geht es intensiv um den in Braunschweig ausgezeichneten Roman „Winterbienen“ (den wir auf diesem Blog HIER vorgestellt haben). Und am Ende stehen die Laudatio von Patrick Bahners sowie – na klar – Norbert Scheuers Dankesrede: „Weder der dicke Stopfkuchen noch der hagere Raabe“.
Und die Auflösung des Widerspruchs? Was es mit der Rede auf sich hat, was Fiktion und Faktum verbindet, wie die Prümer Explosion nachhallt und wie es so läuft mit dem Schreiben hier und heute – darüber gibt Norbert Scheuer ausführlich Auskunft auf diesem Blog – und zwar HIER .
Martin Oehlen
Unsere Besprechung des Romans „Winterbienen“ gibt es HIER .
Unser Interview mit Norbert Scheuer findet sich HIER .
Der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ist mit 30.000 Euro dotiert und wird gemeinsam von der Stadt Braunschweig und dem Deutschlandfunk vergeben. Christine Wunnicke ist die Preisträgerin in diesem Jahr. Die Verleihung findet coronabedingt nur als Hörfunksendung statt – am 28. November um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk. Wunnickes jüngsten Roman, „Die Dame mit der bemalten Hand“, haben wir HIER besprochen.
Hubert Winkels (Hg.): „Norbert Scheuer trifft Wilhelm Raabe – Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2019“, Wallstein, 136 Seiten, 12 Euro.
