
Alle Wege in Norbert Scheuers gesammelten Werken führen nach Kall. Der Eifelort ist das Epizentrum seiner Prosa und Lyrik. Auch in seinem nächsten Roman, der im kommenden Jahr erscheinen soll, wird dies so sein. Zwar variieren Fakten und Fiktionen an vielen Stellen. Doch das real existierende Kall ist der Ausgangspunkt allen Schreibens. Allerdings ist die Kleinstadt in der Eifel nicht mehr diejenige, die sie noch vor einem Monat war.
„Brot und Seele“
Norbert Scheuer schildert in seinem zuletzt erschienenen Roman „Winterbienen“ (2019), wie sehr die Stadt im Zweiten Weltkrieg gelitten hat. Nach offiziellen Angaben der Gemeinde betrug damals „der durchschnittliche Zerstörungsgrad an Gebäulichkeiten“ 50 bis 70 Prozent; im Ort Kall selbst, „Knotenpunkt zweier Eisenbahnlinien und mehrerer Verkehrsstraßen und daher strategisch von großer Bedeutung“, wurden sogar 85 Prozent aller Gebäude im Krieg zerstört. Nun stellt Norbert Scheuer fest, dass Kall im Sommer 2021 so geschunden aussieht wie im Jahre 1945. Die Juli-Flut hat auch diesen Ort im Tal der Urft schwer getroffen.
Norbert Scheuer hat die Naturkatastrophe unmittelbar erfahren. Auch er hat gegen das Wasser auf seinem Grund gekämpft. Allerdings liegt sein Haus einige Höhenmeter oberhalb von Kall, so dass er glimpflich davongekommen ist. Nun steht er auf der hölzernen Veranda seines Gartenhäuschens und eröffnet mit einer Schilderung der Zerstörung und Verstörung eine Benefizveranstaltung zugunsten der Flutopfer. Begleitet wird er dabei von der Trompeterin und Sängerin Susanne Riemer und dem Gitarristen und Percussionisten Wilhelm Geschwind. Die Musiker bieten bei diesem Auftritt Einblick in ihr neues Album mit Vertonungen von Gedichten und Liedern Norbert Scheuers.
Da gibt es Neuland zu entdecken. Nur drei Texte sind bislang bekannt aus Nobert Scheuers Gedichtband „Bis ich dies alles liebte“, der 2011 bei C. H. Beck erschienen ist. Darunter das titelgebende „Brot und Seele“: „wollte nie alles aufgeben / um nichts gegen nichts zu tauschen / nicht nach Afrika reisen / um vergessen zu werden / war immer zufrieden / mit meiner Bedeutungslosigkeit / fuhr jeden Tag zur Arbeit / schrieb nebenher Gedichte …“ Sechs weitere Liedtexte liegen bisher noch nicht in Buchform vor, sondern sind eigens für dieses Album geschrieben worden.
„Ping-Pong-Verfahren“
„Da habe ich erst gemerkt“, sagt Norbert Scheuer am Rande der Veranstaltung, „wie schwer es ist, Lieder zu schreiben.“ Das sei eben etwas ganz anderes als die Arbeit an einem Gedicht. Einige der neuen Titel sind in einem „Ping-Pong-Verfahren“ zwischen Dichter und Komponistin entstanden. Manchmal war das gar nicht einfach. In einem Fall, so schildert es Susanne Riemer, musste Norbert Scheuer ihr den Text vorsingen, den er auf ihre Komposition geschrieben hatte, ehe sie verstand, was er sich ausgedacht hatte. Aber auch die gegensätzliche Erfahrung wurde gemacht. So ging es im Falle eines Liebesliedes „unheimlich schnell“, sagt sie. „Ich glaube, da brauchte ich nur drei Minuten für die Komposition.“
Susanne Riemers Kompositionen sind musikalische Korrespondenzen, die zwar den Text als Basis haben, aber doch völlig frei schwingen. Sie selbst sagt auf ihrer Homepage: „Ich achte oft erstmal kaum auf den Inhalt, den Plot (falls man das bei Lyrik sagen darf).“ Vielmehr könne der Klang der Sprache und der Sinn eines einzigen Wortes Ausgangspunkt für ihre Musik sein. So entstehen hell, leicht und ruhig schwebende Klangwolken.
„es wird doch weitergehen“

Allemal sind die Texte auf Melancholie gestimmt – im Angesicht von Vergänglichkeit, Verwehendem, Vergeblichkeit. Gleichwohl findet sich oft auch ein Trost in diesen Texten, sogar ein trotzig-pragmatisches Es-wird-schon-wieder-werden. Im „Herbstlied“ heißt es: „es wird doch weitergehen / immer weitergehen / die welt wird sich drehen“.
Die Hilfe, die nach der Flut-Katastrophe aus allen Richtungen in die Schadensgebiete gelangt ist, war überragend. Norbert Scheuer sagt, dass er mit einer solchen Solidarität nicht gerechnet habe. Allerdings sorgt er sich, dass nun eine neue, schwierige Phase beginne. „Jetzt gibt es so eine Art Stagnation“, meint er im Gespräch. Man könne wieder durch Kall fahren, da die Straßen geräumt seien. Aber es sei so, als bewege man sich durch eine verlassene Westernstadt. Alles verschlossen, alles so still.
In einer solchen Stimmungslage trägt womöglich auch eine Benefizveranstaltung wie diese dazu bei, dass die Hoffnung am Leben bleibt. Weitere Auftritte im kleinen Rahmen sollen an anderen Orten folgen.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog finden sich zahlreiche Beiträge von und über Norbert Scheuer. Sie sind leicht über die Suchmaske zu erreichen.
Eine Besprechung des Romans „Winterbienen“ gibt es HIER.
Ein Gespräch mit Norbert Scheuer über seine Raabe-Preis-Rede nebst einigen Aussagen zu seiner Biographie gibt es HIER.
Das Album „Brot und Seele“ ist bei Sulaja-records erschienen.
