Bereit für den Deutschen Buchpreis: Christine Wunnickes wunderbar wunderlicher Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“

Shiva, die hinduistische Gottheit mit den 1008 Beinamen, steht am Anfang der Begegnung von Carsten Niebuhr und Musa al-Lahuri in Christine Wunnickes Roman. Der hier abgebildete Shiva-Torso aus dem 9. Jahrhundert befindet sich im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum. Dort ist auch die Holztüre aus Rajasthan zu sehen, die am Kopf dieser Seite steht. So sehr sich die Lektüre des Romans lohnt, so sehr ein Besuch in diesem Museum. Fotos: Bücheratlas

Musa al-Lahuri, der die besten Astrolabien von ganz Hindustan schmiedet, möchte ganz woanders sein. Er strebt von Indien aus nach Arabien. Dort endlich, meint der aus Persien stammende Meister der astronomischen Instrumente, „fände er Sinn“. Doch jetzt, im Jahre 1764, macht er mit seinem Diener Malik erst einmal Rast auf der Insel Gharapuri, die vor dem heutigen Mumbai gelegen und unter dem Namen Elephanta bekannt ist. Diese liegt „völlig sinnlos“ im Meer.

Ein Gesicht wie entrahmte Milch

In einer ihrer Höhlen, die gut 200 Jahre später zum Weltkulturerbe der Unesco erklärt werden, entdeckt Musa einen Fremden: „Das war nicht gut. Kein guter Mann würde hier einsam hocken.“ Auch macht der Europäer, dessen Gesichtsfarbe „bläulich weiß wie entrahmte Milch“ aussieht, einen verwirrten Eindruck: Gestikulierend und stammelnd weist er auf die Shiva-Skulpturen in der Höhlenwand. Jetzt wissen wir’s – der Mann ist gekommen, um Neues zu erfahren.

So geht es los in Christine Wunnickes wunderbar wunderlichem Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“. Der Europäer, den Musa zum Reden bringt, ist der Forschungsreisende Carsten Niebuhr aus Deutschland. Allerdings erfasst Musa den Namen zunächst nicht ganz korrekt. Er versteht nur: Kurdistan Nibbur aus Almanya. Das ist einerseits amüsant. Und es ist andererseits ein Elementarteilchen der Geschichte.

Lost in Translation

Denn die mühsame Kommunikation der Kulturen zieht sich durch den Roman wie ein roter Faden. Arabisch ist die lingua franca der beiden Gelehrten – doch Niebuhrs Arabisch ist nicht das beste. Die Männer reden über ihre Familien, über die Gestirne und über die indische Götterwelt. Nach einem langen Vortrag schweigt Niebuhr und sagt schließlich: „Ich kann dir nicht folgen.“ Zwanzig Seiten später, als Niebuhr von seinem Forschungs-Auftrag berichtet, wählt Musa dieselbe Formulierung: „Ich kann dir nicht folgen.“  Mit anderen Worten: Lost in translation.

Einiges von dem, was der fiktive Carsten Niebuhr erzählt, ist auch der historischen Persönlichkeit (1733-1815) widerfahren. Der Kartograph war mit einer Gruppe „gelehrter Männer“ in dänischem Auftrag nach Arabien ausgesandt worden, um einen sehr langen Fragenkatalog abzuarbeiten. Darin ging es unter anderem um Bibelstellen-Nachweise, Heuschrecken-Verzehr und Gold-Vorkommen. Niebuhrs fünf Begleiter fielen leider nach und nach der Malaria zum Opfer. Nachzulesen ist dies in der „Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern“, die in einer prächtigen Ausgabe der Anderen Bibliothek vorliegt.

Christine Wunnicke, 1966 in München geboren, widmet sich mit Hingabe solchen west-östlichen Kultur-Kollisionen. So lässt sie in der Novelle „Nagasaki, ca. 1642“ – im Jahre 2010 in der Edition Epoca erschienen und soeben im Berenberg-Verlag neu aufgelegt – einen alten Samurai auf einen jungen Niederländer treffen. Die Sprachkonfusion sorgt auch dort für Heiterkeit: „Ein einziges Mal hatte er“ – gemeint ist der junge Europäer – „dolmetschen dürfen, als ein Sultan oder Pascha oder Bonze oder Khan oder weiß der Deibel was den Gouverneur van Diemen besuchte, und er wusste noch immer nicht, welche Sprache dieser Mann eigentlich gesprochen hatte.“ Das ist nicht günstig für einen Übersetzer, wenn er fantasieren muss.

Liebe, Zeitvertreib und Kassiopeia

Komisch ist jetzt auch die frei erfundene Begegnung der beiden Wissenschaftler auf Elephanta. Wunnicke belässt es nicht dabei, die psychisch leicht angespannten Herren mehr als einmal aneinander vorbeireden zu lassen. Auch wird hier der koloniale Geist jener Jahre satirisch in Szene gesetzt. Zudem bekommt Niebuhr Raum zu philosophischen Betrachtungen. Da geht es um Phänomene wie Liebe und Zeitvertreib. Und einmal sagt der Norddeutsche: „Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder.“ Zu dieser Erkenntnis gelangt er, als er das Sternbild der „Kassiopeia“ beschreibt und von Musa belehrt wird, dass dies doch nur „die bemalte Hand“ jener sagenhaften Dame am nächtlichen Firmament sei.

Eine Welt, mehrere Sichtweisen – so feiert Christine Wunnicke die Vielfalt der Kulturen. Der kurze Roman steht mit gutem Grund auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Ein dichtes, komplexes und bildungssattes Werk mit hohem Schmunzel-Faktor. Allerdings ist es keine Geschichte, in die man sich behaglich einkuscheln könnte. Vielmehr fordert das Mosaik aus Fakten und Fiktionen die Leser immer wieder auf, bei der Sache zu bleiben. So ist das Vergnügen nicht so sehr ein sinnliches, sondern ein intellektuelles – aber ein Vergnügen zwischen Himmel und Erde ist es allemal.

Martin Oehlen

Eine Besprechung von Carsten Niebuhrs „Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern“ findet sich HIER .

Christine Wunnicke: „Die Dame mit der bemalten Hand“, Berenberg, 168 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

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