
Was als erstes ins Auge springt, sind die Gletscher. Sie glitzern nicht nur im Sonnenlicht über den Alpen, sondern strecken ihre Zungen weit Richtung Täler hinaus. Um das Jahr 1900 wurden die „Eismeere“ noch nicht von der Erderwärmung heimgesucht wie dies in unseren Tagen der Fall ist. Kürzlich erst wurde festgestellt, dass die Gletscher in Österreich mittlerweile doppelt so schnell schmelzen wie im langjährigen Mittel – und beim größten Gletscher, der Pasterze am Großglockner, hat sich der Eisverlust gar vervierfacht.
Erfindung der „Natur-Farben-Photographie“
Man wähnt sich nicht selten in einer heilen Alpenwelt, wenn man durch den Band „The Alps 1900 – A Portrait in Color“ streift. Aufgeblättert wird sie in einem weiteren Retro-Prachtband aus dem Taschen Verlag, der zuvor schon mit dem Frankreich, Amerika und Japan um 1900 vertraut gemacht hat. Herausgeberin Sabine Arqué hat auch diesmal wieder eine überwältigende Fülle an historischen Aufnahmen zusammengetragen.
Dabei handelt es sich um Fotografien, Postkarten und Werbeplakate, aber vor allem um sogenannte Photochrome. Diese verdanken sich einem Verfahren, bei dem den Schwarz-Weiß-Aufnahmen nachträglich Farben zugeführt werden. Meist kommen diese Kolorierungen leicht gedämpft und nur selten grell daher. Die ersten „Natur-Farben-Photographien“ tauchen in der Schweiz im Jahre 1889 auf. Auf den Farbfilm-Start von Kodak musste man noch bis 1935 warten.
Warnung vor einer „Tourismus-Epidemie“
Im Bild festgehalten wurde, was vielfach noch heute in den Alpen Eindruck macht. Da geht es über Pässe und durch Tunnel, zum frisch eingeführten Wintersport und in die schon viel länger lockende Sommerfrische, hinauf zu den Eiszacken des Montblanc und hinab in die Via-Mala-Schlucht, hinein ins Grandhotel und hinaus auf die Schlittenbahn. Fast verortet man sich selbst im Tiefschnee oder auf einem nichts als blauen See. Tiere kommen allerdings kaum einmal vor – die waren wohl einfach zu schnell für die Kameratechnik vor weit über einhundert Jahren.


Die Aufnahmen wollen gefallen. Sie preisen die Schönheit der Natur und die Faszination des Reisens. Dass der Tourismus auch seine Schattenseiten hat, zeigen sie nicht. Allerdings ist man zu jenem Zeitpunkt vom Gedränge an Pisten oder in Altstädten, wie wir es aus der Gegenwart kennen, noch weit entfernt. Gleichwohl wurde schon vor 1900 vor Auswüchsen gewarnt. Autorin Agnès Couzy zitiert einige einschlägige Kommentare. Da ist von den Alpen als „Spielplatz Europas“ die Rede, wird vor einer „Tourismus-Epidemie“ gewarnt und mutiert die Schweiz zur „Sportschule“. Dabei war zu jener Zeit der Wintersport noch eine Novität und wurden Skifahrer als Rarität bestaunt.
Den Rock auf dem Gipfel vergessen
Der Band ist bis in die Bildzeilen hinein unterhaltsam und informativ. Da denken wir jetzt gerade an die Irin Elisabeth Burnaby, die eine begeisterte Bergsteigerin war. Zwar mahnte ihre Mutter öffentlich, Elisabeth möge davon lassen, weil diese Betätigung doch skandalös sei. Allerdings hinderte das die junge Frau nicht, zahlreiche imposante Gipfel zu erklimmen. Einen Berg bestieg sie an einem Tag sogar zweimal, weil sie auf dem Gipfel den Rock für den Gang zurück in die Stadt vergessen hatte. Den Skandal, in Hosen aufzutreten, wollte sie dann doch nicht riskieren.
Quer durch den Band stößt man auf zahlreiche bekannte Stimmen. Auf die des Engländers William Turner, des Franzosen Victor Hugo oder des Deutschen Franz Kafka. Ins Schwärmen geraten sie und fast alle anderen Zeitzeugen. Auch Richard Wagner am Vierwaldstätter See: „Ich bin von einer wahren Wunderwelt umgeben.“ Nichts wie hin.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir die vorangegangenen Bände zu „France 1900“ HIER und zu „Japan 1900“ HIER vorgestellt.
Sabine Arqué und Agnès Couzy: „The Alps 1900 – A Portrait in Color“, Taschen Verlag, mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch, Taschen Verlag, 600 Seiten, 150 Euro.
