Was Freundschaft bedeutet: Joachim B. Schmidts Island-Roman „In Küstennähe“ über Eigenbrötler, die Halt und Hoffnung finden

Isländisches Idyll mit Haken Foto: Bücheratlas

Grimur der Schlächter, so nennt man im Alters- und Pflegeheim Vesöld in Isafjördur den Bewohner von Zimmer 37-A. Der Alte, wird gemunkelt, habe als junger Mann seine Halbschwester missbraucht und im Meer ertränkt. Wie sonst ist das spurlose Verschwinden der schönen Drifa vor mehr als 50 Jahren zu erklären?

Spinnennetz im Spätherbst

Auch Lárus, der Gehilfe des Hausmeisters und im Nebenberuf Dealer, kennt den schlechten Ruf des betagten Fischers. Der junge Mann ist im selben Dorf aufgewachsen wie Grimur und hat sich als Kind mit seinen Freunden einen Spaß daraus gemacht, den komischen Kauz aus dem windschiefen gelben Häuschen zu piesacken, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Einmal hat er ihm unter dem Gejohle seiner Kumpel sogar einen stinkenden Haufen vor die Haustür gesetzt, wofür sich Grimur damals bitter rächte.

Kein Wunder also, dass Lárus noch immer Angst vor dem alten Seebären hat, der ihn aus milchigen Augen anstarrt, sobald er dessen Zimmer betritt. Doch ganz langsam entwickelt sich eine Freundschaft zwischen dem jungen und dem alten Mann, so fein und zart wie ein Spinnennetz im Spätherbst. „Ich habe einen Freund verloren“, wird Lárus nach dem Tod von Grimur sagen. Einen Freund, wie er bisher noch keinen hatte.

Das Debüt nach all den Erfolgen

„In Küstennähe“ ist der erste Roman von Joachim B. Schmidt und spielt in einem abgelegenen Ort in den isländischen Westfjorden. Schmidt, 1981 in der Schweiz geboren und von Beruf Journalist, lebt seit 2007 auf Island und hat mehrere Bücher im Schweizer Landverlag veröffentlicht. Bekannt wurde er durch seinen preisgekrönten – und ebenfalls auf Island spielenden – vierten Roman „Kalmann“, der 2020 im Diogenes Verlag erschien und ein Jahr später den Krimipreis des Kölner Festivals „Crime Cologne“ erhielt. „In Küstennähe“ wurde das erste Mal 2013 im Landverlag veröffentlicht. Jetzt hat Diogenes eine überarbeitete Taschenbuchausgabe des rund 330 Seiten starken Debütwerks herausgebracht.

Wie in „Kalmann“ und dem im Frühjahr 2022 publizierten Roman „Tell“ sind Schmidts Protagonisten zwei Eigenbrötler, die „ziemlich weit unten in der Nahrungskette“ stehen. Lárus hat weder Freunde noch eine Partnerin, sondern allenfalls Kumpel, die ihn wegen seiner Dienste als Drogenhändler schätzen. Seine als coole Anmache getarnten Versuche, mit einer jungen Kollegin aus dem Altenheim anzubandeln, scheitern nicht zuletzt an seinen sozialen Defiziten. So schießt sich der 23-Jährige jedes Wochenende mit Alkohol ab und wünscht sich nichts sehnlicher als eine Freundin, die zu Hause auf ihn wartet. „Sie oder irgendwer.“

Außenseiter am Doerfrand den Westfjorden

Grimur, 1926 geboren, ist der uneheliche Sohn eines umtriebigen dänischen Seemanns. In Bolungarvik gilt seine Mutter als Schlampe – „keinen Vater zum Kinde zu haben bedeutete Ärger“. Auch „dem Bastard winkte ein ähnlich dunkles Leben“. Mutter und Sohn fristen, wie man in zahlreichen Rückblenden erfährt, ein ärmliches Dasein am Rande des Dorfes. Bis eines Tages Drifa zu ihnen stößt, auch sie ein uneheliches Kind des dänischen Matrosen. Grimur verliebt sich in seine Halbschwester, und schon bald beginnt man in Bolungarvik über die beiden zu tuscheln. Als er von einer gemeinsamen Bootstour ohne sie zurückkommt, scheint die Sache klar zu sein: Grimur hat Drifa getötet.  

Joachim B. Schmidt erweist sich bereits in seinem ersten Roman als ein erstklassiger und feinfühliger Erzähler. Behutsam und ohne dabei ins Sentimentale abzugleiten schildert er die Annäherung zwischen den beiden ungleichen Männern. Sie geben einander Halt und Hoffnung und erfahren zum ersten Mal in ihrem Leben, was Freundschaft bedeutet. Ein bemerkenswertes Debüt, das eine Neuauflage mehr als rechtfertigt. 

Petra Pluwatsch

Auf diesem Blog

haben wir Joachim B. Schmidts Romane „Kalmann“ HIER und „Tell“ HIER besprochen. Außerdem findet sich ein Beitrag, in dem Joachim B. Schmidt einen Einblick in seine Arbeit gibt – und zwar HIER.  

Joachim B. Schmidt: „In Küstennähe“, Diogenes, 320 Seiten, 14 Euro. E-Book: 11,99 Euro.

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