Postkarte statt Selfie: La Belle France um 1900

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Blick auf eine scheinbar heile Welt: Fischer vor dem Mont-Saint-Michel. Die Aufnahme entstand um 1890 in der Normandie.  Foto: Taschen-Verlag

Das Frankreich der vorletzten Jahrhundertwende zeigt sich hier von seinen schönsten Seiten. Die Sonne scheint, die Plätze sind gefegt, die Sehenswürdigkeiten herausgeputzt. Kein Wunder. Denn die rund 800 Aufnahmen, die in dem voluminösen Bildband „Frankreich um 1900“ zu sehen sind, richten sich in erster Linie an Touristen. Die Reisenden verschickten Postkarten, die den Daheimgebliebenen nur das Beste übermitteln sollten, und sie erwarben Foto-Souvenirs, die die Erinnerung an die kostbaren Tage in Paris oder an den Küsten wachzuhalten vermochten. Selfies waren damals noch nicht in Mode.

Der Taschen-Verlag setzt mit diesem Schwergewicht seine fotografische Erkundungstour in die Zeit um 1900 fort. Nach Bildbänden über Italien, Deutschland, der „American Odyssey“ und der „Grand Tour“ (über berühmte Reisewege) nun also Frankreich. Die kräftig sprudelnde Quelle ist erneut das Archiv des 2018 verstorbenen Fotografen und Sammlers Marc Walter, der sich auf Fotochrome spezialisiert hatte. Dabei handelt es sich nicht um Farbfotografien unserer Tage und auch nicht um von Hand nachkolorierte Aufnahmen. Vielmehr kommt beim Fotochrome ein kompliziertes Flachdruckverfahren zur Anwendung, in dessen Verlauf der Abzug eines Schwarz-weiß-Negativs um einige Farbschichten ergänzt wird.

Die Texte stammen wieder von Sabine Arqué. Nicht nur ihre kurzen Einführungstexte zu den verschiedenen touristischen Regionen sind hilfreich. Auch die Bildzeilen weisen oft auf eine liebvolle Beschäftigung mit den Motiven hin. So wird  beispielsweise ein Gepäckaufkleber des „Hôtel du Cap“ in Antibes mit einer genau dort spielenden Kurzgeschichte von F. Scott Fitzgerald in Verbindung gebracht, in der es unter anderem heißt: „Wir wärmten unsere sonnenverbrannten Rücken und erfanden neue Cocktails.“

Es ist die Zeit der Belle Epoque – der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 ist hier so fern wie der Erste Weltkrieg von 1914/18. Auf den Fotografien, den Postkarten und Plakaten werden keine Sozialstudien betrieben und keine Schattenseiten vorgeführt. Vielmehr leuchtet hier die schöne Welt des Reisens, der Lebensfreude, des Genusses, des Staunens und Entdeckens, der Erkundung fremder Attraktionen. Dass all dies in „la douce France“ damals so gut möglich war wie heute, ist nach Erklimmen des Bilderbergs keine Frage.

Martin Oehlen

Sabine Arqué und Marc Walter (Hrsg.): „Frankreich um 1900 – Ein Porträt in Farbe“, Taschen, dreisprachige Ausgabe, 636 Seiten, 150 Euro.

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