„Sehr viele waren bereit zum Massenmord“: Dieter Pohl über „Nationalsozialistische Verbrechen 1939-1945“ in einem neuen Band des „Gebhardt“

Das Holocaust-Mahnmal – offiziell das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ – in Berlin. Foto: Bücheratlas

Warum? Warum dieser deutsche Absturz in den Massenmord an Jüdinnen und Juden, an Sinti und Roma, Kranken und Behinderten, Homosexuellen und Kriegsgefangenen, an Zeugen Jehovas, politisch Andersdenken und anderen mehr? Und warum diese rasende Bereitschaft zu einem alles zerstörenden Zweiten Weltkrieg? Die eine Antwort gibt es darauf nicht. Selbstverständlich nicht. Dieter Pohl liefert im neuen Band des „Gebhardt“, wie dieses „Handbuch der deutschen Geschichte“ kurz genannt wird, ein ganzes Bündel an möglichen Erklärungen – vom Antisemitismus, der sich gegen den soziökonomischen Aufstieg der jüdischen Minderheit richtete, bis zu einer wachsenden moralischen Akzeptanz radikaler Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg.

Der Blick wird europäischer

Der „Gebhardt“ hat für jene, die sich mit Geschichtswissenschaft befassen, seit langem einen besonderen Gemüts- und Stellenwert. Die Reihe, die auf eine Veröffentlichung des Breslauer Gymnasiallehrers Bruno Gebhardt aus dem Jahre 1891/1892 zurückgeht, ist eine treue Begleiterin als scheinbar nie versiegende Quelle der Erkenntnis. Sie gibt konzentriert Auskunft und bietet jede Menge Hinweise auf weiterführende Untersuchungen und Dokumente.

Anlässlich der 10. Auflage, die seit 2001 erscheint, heißt es über dieses Handbuch: „In ihm resümiert und reflektiert jede Historikergeneration seit dem ersten Erscheinen den Stand der deutschen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung.“ Beim Blick auf den aktuellen Stand wird festgehalten, dass die Darstellung der deutschen Geschichte europäischer geworden sei – es ist also eine Geschichte inmitten und in Wechselwirkung mit anderen Strömungen.

„Mit immensem Aufwand erforscht“

Nun gibt es eine Premiere in diesem Standardwerk. Erstmals widmet sich ein Band im „Gebhardt“ den „Nationalsozialistischen Verbrechen 1939-1945“. Und gleich ahnt man, dass sich ein besserer Überblick über diese Phase des Grauens derzeit kaum finden lässt. Selbstverständlich kamen diese Verbrechen, die eine „fundamentale Bedeutung für die westliche Erinnerungskultur“ erlangt haben, auch in früheren Auflagen des Handbuchs vor. Doch noch nie so prominent wie diesmal. Autor Dieter Pohl, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Klagenfurt (Österreich), sieht darin ein „Zeichen für den Wandel der deutschen Erinnerungskultur in den letzten Jahrzehnten“.

Es gebe sicher nur wenige Themen der Zeitgeschichte, schreibt Pohl, „die mit einem derart immensen Aufwand erforscht wurden wie die NS-Verbrechen.“ Die Verfolgungspraxis sei teilweise bis auf die lokale Ebene hinab untersucht worden. Allerdings weiß er auch um Defizite – so fehlen für Länder wie Polen, das ehemalige Jugoslawien und auch Griechenland moderne Überblicksstudien.

„Die freie Welt hat kaum eingegriffen“

Im Zentrum der Forschung steht der Mord an den europäischen Juden. Dabei habe sich als ein neuer Schwerpunkt die „Rekonstruktion der nicht-deutschen Beteiligung an den antijüdischen Verbrechen“ entwickelt. Ebenso erfahre die Ausbeutung und Beraubung der Opfer eine größere Aufmerksamkeit – allerdings in Westeuropa häufiger als in Osteuropa. Schließlich sei die Erforschung der Kranken- und Behindertenmorde deutlich vorangeschritten. Hingegen würden Themen wie „Jüdische Frauen und jüdische Kinder während der Verfolgung“ sowie das religiöse Leben während des Zweiten Weltkriegs immer noch wenig untersucht.

Was den Massenmord anbelangt, betont der Autor zwei Aspekte besonders prominent. Zum einen blickt er nach außen: „Die freie Welt hat, obwohl sie in Teilen sehr gut informiert war, auch dann kaum eingegriffen, als sie in der zweiten Kriegshälfte dazu in der Lage gewesen wäre.“  Zum anderen und vor allem blickt er nach innen: „Sehr viele waren bereit, den Massenmord hinzunehmen, und immer mehr, ihn auch auszuführen.“

Martin Oehlen

Dieter Pohl: „Nationalsozialistische Verbrechen 1939-1945“, Band 20 der Reihe „Gebhardt – Handbuch der deutschen Geschichte“, Klett-Cotta, 408 Seiten, 45 Euro.

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