„Ich würde so gerne noch ein richtiger Backfisch sein“: Anne Frank begann vor 80 Jahren ihr einzigartiges Tagebuch, das mittlerweile in über 70 Sprachen vorliegt 

Das Passfoto von Anne Frank stammt aus dem Mai 1942. Einen Monat später suchte das 13 Jahre alte Mädchen mit ihren Eltern Schutz vor den Nazis in einem Versteck in Amsterdam. Foto: Sammlung Anne Frank Haus Amsterdam / Public Domain Work

Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl, Tagebuch zu schreiben.“ notiert Anne Frank im Juni 1942 in Amsterdam. „Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird.“ So hält sie es in ihrem Notizbuch fest, das sie kurz zuvor zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Nun liegt das einzigartige Dokument, das mittlerweile in über 70 Sprachen übersetzt worden ist, in einer Sonderausgabe des S. Fischer Verlags vor – mit dem rotweiß karierten Muster auf dem Umschlag, das einst das erste, bald schon vollgeschriebene Tagebuch geschmückt hat.

„Het Achterhuis“ erschien vor 75 Jahren

Für die vorliegende, sehr zu empfehlende Ausgabe gibt es einige Anlässe. Zunächst einmal kann man dieses Zeugnis jüdischen Lebens zu Zeiten der Nazi-Barbarei nicht oft und weit genug in Umlauf bringen. Zudem gibt es kalendarische Anlässe. Zum ersten: Vor 80 Jahren, an ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942, hat Anne Frank die ersten Zeilen in ihr Tagebuch geschrieben: „Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.“ 

Und zum zweiten: Vor 75 Jahren, nämlich am 25. Juni 1947, kam es zur ersten Veröffentlichung in den Niederlanden. Dabei basierte „Het Achterhuis“ auf der von Annes Vater Otto Frank gekürzten Fassung (Version c). Die nun vorliegende Sonderausgabe bietet die von Mirjam Pressler (1940-2019) edierte und vom Anne Frank Fonds autorisierte, alle Versionen umfassende Lesebuchfassung (Version d) des Tagebuchs. Zudem wird der Text hilfreich ergänzt von vielen sachdienlichen Hinweisen, auch solchen zum weiteren Schicksal der Menschen, die Anne Frank erwähnt hat.

Von Frankfurt über Aachen nach Amsterdam

Anne (Annelies Marie) Frank war die zweite Tochter der Eheleute Edith und Otto Frank. Ihre Schwester Margot war drei Jahre älter. Frühzeitig erkannten die Eltern, welche Gefahr die Machtergreifung Adolf Hitlers für die jüdische Bevölkerung bedeutete. Schon 1933 zog die Familie von Frankfurt nach Amsterdam – bis auf Anne, die zunächst noch bis zum Februar 1934 bei ihrer Großmutter in Aachen lebte.

Die Nazis befahlen der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden im Mai 1942 das Tragen eines „Judenstern“. Foto: Bücheratlas

Mit der deutschen Besetzung der Niederlande im Mai 1940 und der Einführung des „Judenstern“ im Mai 1942 änderten sich die Lebensumstände für die jüdische Bevölkerung radikal. Auch diesmal sind die Eltern weitsichtig: Für den Fall der Fälle hatten sie über Monate hinweg ein Versteck vorbereitet. Der Notfall trat ein, als Margot aufgefordert wurde, sich für den „Arbeitseinsatz im Osten“ zu melden. Am 6. Juli 1942 bezog die Familie ihr Versteck in einem Hinterhaus an der Prinsengracht 263. Wenige Tage später kamen die dreiköpfige Familie van Pels und im November der Zahnarzt Fritz Pfeffer hinzu. Fünf Personen, die ihnen geholfen haben, wurden später von der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet: Jan und Miep Gies, Johannes Kleiman, Viktor Kugler und Bep Voskuijl.

Briefe an die „Liebe Kitty“

Anne Frank, die ihr Tagebuch in der Amsterdamer Wohnung am Merwedeplein 37 begonnen hat, schildert intensiv den „Alltag“ im Versteck. Dabei verliert sie nicht ihren Humor, ihren wachen Blick, ihre Nachdenklichkeit, ihre Lebenslust und ihr Selbstbewusstsein. Als es mal wieder zu einer „Unstimmigkeit“ mit der Familie van Pels kommt, notiert sie: „Ich werde ihnen schon zeigen, dass Anne Frank nicht von gestern ist!“ Das ist sie nun ganz und gar nicht. Und nichts ersehnt sie mehr als ein freies Leben. Anfang 1944 fürchtet sie, im Hinterhaus eine „ausgetrocknete Bohnenstange“ zu werden, dabei würde sie doch „so gerne noch ein richtiger Backfisch sein“.

Das Schreiben helfe ihr, sagt sie, den Kummer zu verdrängen und den Mut wiederzufinden. Dabei adressiert sie ihre Eintragungen über Liebe und Krieg, über die Menschen in ihrer Nähe und das Menschsein im Allgemeinen an eine imaginäre Freundin: „Liebe Kitty!“ Als sie Anfang 1944 im Radio die Anregung vernimmt, nach dem Krieg alle Aufzeichnungen zum Leiden unter der deutschen Besatzung in einem Institut zu sammeln, überarbeitet sie ihr Tagebuch. Ihr Ziel: Sie will Journalistin und Schriftstellerin werden.

Tod im Lager Bergen-Belsen

Zum letzten Mal wendet sich Anne Frank am 1. August 1944 an die „liebe Kitty“. Drei Tage später wird das Versteck entdeckt. Im Vorwort heißt es: „Bis heute konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob und von wem das Versteck der Hinterhausbewohner verraten wurde.“

Die acht Personen aus dem „Achterhuis“ werden über das Durchgangslager Westerbork in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Dort und in anderen Lagern kommen sieben der acht Untergetauchten ums Leben. Anne und ihre Schwester Margot sterben zwischen Ende Februar und Anfang März 1945 im Lager Bergen-Belsen an Typhus. Allein Otto Frank, der Vater, überlebt und kehrt nach der Befreiung des Lagers Auschwitz-Birkenau durch russische Truppen über Odessa und Marseille zurück nach Amsterdam.

„Niemand sollte vergessen“

Dort übergab ihm Miep Gies das Tagebuch von Anne Frank, das sie aus dem Hinterhaus gerettet hatte. Mirjam Pressler schreibt in ihrem Nachwort: „Otto, dem verzweifelten, geschlagenen Mann muss es sehr schwergefallen sein, sich beim Lesen immer wieder den schmerzlichen Erinnerungen an seine Frau und seine beiden Töchter auszusetzen. Doch auch hier zeigte er seine große innere Stärke, die er bereits früher bewiesen hatte, er nahm sein Schicksal auf sich und widmete ab da seine ganze Kraft der Erinnerung. Niemand sollte vergessen, was seinen Töchtern Margot und Anne passiert war, niemand sollte das Schicksal der anderthalb Millionen jüdischer Kinder vergessen, die im Holocaust ihr Leben lassen mussten.“  

Martin Oehlen

Das Anne Frank Haus

in Amsterdam, in dem auch das Tagebuch von Anne Frank aufbewahrt wird, liegt an der Prinsengracht 263-267. Der Eingang des Museums befindet sich um die Ecke am Westermarkt 20. Vom Bahnhof Centraal sind es 20 Gehminuten. Geöffnet täglich von 9 bis 22 Uhr.

„Das Tagebuch von Anne Frank“, hrsg. und aus dem Niederländischen übersetzt von Mirjam Pressler, S. Fischer, 384 Seiten, 24 Euro. E-Book: 9,99 Euro.

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