
Für das Volk der Wayowayo ist die Welt eine Insel. Ihre Insel. Das einsame Eiland hat Kabang, wie sie ihren Gott nennen, für sie geschaffen. Der Rest ist nichts als Meer. In dieses große Nichts schicken die Wayowayos ihre Zweitgeborenen hinaus. Den jungen Männern ist es verboten, jemals auf die Insel zurückzukehren. Trinkwasser gibt es nur für zehn Tage. Dann ist’s vorbei. Das ist der Brauch.
Reise ohne Wiederkehr
Atile’i gehört zu den Zweitgeborenen. So steigt auch er eines Morgens in ein Ruderboot und begibt sich auf seine Reise ins Unbekannte. Schwer ist sein Herz. Vor allem deshalb, weil er die geliebte Ussula zurücklassen muss.
Doch der junge Mann stirbt nicht auf seiner gefährlichen Fahrt. Er landet glücklich-unglücklich auf einer künstlichen Insel aus Müll. Unbekannt und rätselhaft ist dem Jungen alles, was er da auf schwankendem Grund vorfindet. Ist das die Hölle?
Meeresspiegel steigt schneller als andernorts
Dieser gewaltige Strudel aus verkeiltem Treibgut – darunter vor allem Plastikobjekte, aber auch so eigenartige Objekte wie eingeschweißte Bücher – trifft schließlich auf die Ostküste von Taiwan. Dort wird er schon von alarmierten Umweltschützern und Journalisten erwartet. Auch die Literaturwissenschaftlerin Alice, die in einem einsamen Haus am Pazifik lebt, ist Augenzeugin des Mülltsunamis. Eigentlich hatte sie beschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Zu heftig schwärt die Lebenskrise. Doch dann entdeckt sie Atile’i mitten im Müll, den Mann vom Volk der Wayowayo.
Autor Wu Ming-Yi, 1971 in Taiwan geboren, ist Literatur-Professor und Umweltschutz-Aktivist. Insofern steht er Alice nahe, die eine der beiden Hauptfiguren in seinem Roman „Der Mann mit den Facettenaugen“ ist. Es handelt sich dabei um eine Art „Ecofiction“ – um eine Geschichte, in der die zentralen ökologischen Übel unserer Zeit abgehandelt werden. Vom Plastikinferno bis zur Erderwärmung. Dass das Haus von Alice, das einst auf festem Grund stand, mittlerweile vom Meer umspült wird, entspricht der realen Entwicklung vor Ort: Der Anstieg des Meeresspiegels, sagt es Greenpeace Taiwan, steigt rund um Taiwan doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt.
Ureinwohner wurden an den Rand gedrängt
Zugleich ist es ein Roman, der die Aufmerksamkeit auf Taiwans Ureinwohner lenkt. In einem Interview hat Wu Ming-Yi gesagt, dass ihm die Tao auf Lanyu, der sogenannten Orchideeninsel, eine Inspiration für seine Erfindung der Wayowayo gewesen seien. Die Ureinwohner auf Taiwan und den umliegenden Inseln wurden einst von Japaner und Chinesen zurückgedrängt. Heute liegt ihr Bevölkerungsanteil bei etwa zwei Prozent. So spielen sie in der öffentlichen Wahrnehmung keine prominente Rolle, wenngleich die eine oder andere folkloristische Begegnung für Touristen angeboten wird.


„Der Mann mit den Facettenaugen“ ist in Taiwan bereits im Jahre 2011 erschienen. Mit dem nachfolgenden Roman „The Stolen Bicycle“, der anhand der Fahrradmarke „Lucky“ die neuere Geschichte der Insel erkundet, stand Wu Ming-Yi 2018 auf der Longlist zum Man Booker International Prize. Im Nachwort jenes Romans lesen wir, dass der Autor das Schreiben nutze, um jenen Dingen auf den Grund zu gehen, die er verstehen wolle.
Bob Dylan singt „Hard Rain“
Das war gewiss auch eine Motivation für den „Mann mit den Facettenaugen“. Das Buch wird geprägt von seiner aufklärerischen Absicht. Sogar Bob Dylan wird einschlägig und ausführlich zitiert: „A Hard Rain’s A-Gonna Fall“ mit fünf langen Strophen. Die Mahnung zu einem behutsamen Umgang mit der Natur ist auf keiner Seite zu übersehen. Dazu fliegen die Argumente im 21. Kapitel auch mal etwa sehr konzentriert hin und her. Aber das stört nicht weiter.
Die Perspektive wechselt gelegentlich aus der eines allwissenden Erzählers zu der von Alice. Die Frau ist durchaus mitteilsam. Zwar heißt es eingangs: „Mit Alice zu sprechen war, als ob man Steine in ein leeres Haus warf, das nicht einmal mehr Fenster hatte.“ Doch seitdem die Literaturwissenschaftlerin den jungen Atile’i getroffen hat, spürt sie das Bedürfnis, einen Roman zu schreiben.
Zwischen Mensch und Mythos
Wu Ming-Yi erzählt intensiv von Moderne und Tradition, Wissenschaft und Urglaube, Mensch und Mythos. Und es ist der plötzlich auftauchende „Mann mit den Facettenaugen“ höchstpersönlich, der zwischen diesen beiden Welten als Vermittler auftritt. An der apokalyptischen Tendenz, die dem Roman innewohnt, kann aber auch diese schwer fassbare Gestalt nichts ändern. Da müssen wir Irdischen schon selber ran.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
finden sich einige Taiwan-Beiträge – darunter auch ein dreiteiliger Reisebericht, dessen erster Teil HIER angesteuert werden kann. Zudem gibt es Besprechungen von Stephan Thomes Roman „Pflaumenregen“ (HIER) und Jessica J. Lees poetische Landeskunde „Zwei Bäume machen einen Wald“ (HIER).
Wu Ming-Yi: „Der Mann mit den Facettenaugen“, dt. von Johannes Fiederling, Matthes & Seitz, 318 Seiten, 25 Euro.
