
Stephan Thome kommt sofort zur Sache. In einem Vorwort zu seinem Roman „Pflaumenregen“ (Suhrkamp) hält er fest: „Heute ist Taiwan eine ebenso lebendige wie gefährdete Demokratie, denn das Regime in Peking betrachtet die Insel – die nie zur Volksrepublik gehört hat – als Teil seines Staatsgebiets und strebt eine notfalls gewaltsame Vereinigung an.“ Und er fügt hinzu: „In Taiwan will das so gut wie niemand.“
Spannungen mit der Volksrepublik China
Der Schriftsteller, der in der taiwanischen Hauptstadt Taipei lebt, legt einen historischen Roman mit aktuellem Zündstoff vor. Gerade in diesen Wochen scheinen die Spannungen im Pazifik zuzunehmen. Das zeigt sich darin, dass die Volksrepublik China seine militärische Luftmacht massiv demonstriert. Auch drückt es sich in Nachrichten aus, wonach die taiwanische Luftwaffe Notstarts auf Schnellstraßen trainiert oder die Bevölkerung in Erster Hilfe unterrichtet wird. Aus Sorge vor einem chinesischen Angriff.
Wer sind wir? Die Frage der Identität wird in Stephan Thomes Roman vielfach gewendet. Das bietet sich durchaus an bei einer Insel, deren Bewohner erst von Portugiesen, Niederländern und Spaniern heimgesucht wurden, dann von Chinesen, Ende des 20. Jahrhunderts von Japanern und schließlich 1945 von Tschiang Kai-scheks Truppen.
Erzählen und verstehen
Mit dem Ende der japanischen Besatzung und der Eingliederung in die Republik (nicht: Volksrepublik) China setzt der Roman ein. In jener Zeit, da es gefährlich ist, „im falschen Moment den Mund zu öffnen“, lernen wir die hellwache und nächstenliebende Schülerin Umeko kennen. Ihr folgen wir dann bis ins hohe Alter. Bis zu jenem Tag im Jahre 2017, an dem sie mit ihrem Sohn und zwei Enkelkindern an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, der mit manchem Schrecken verbunden ist. Ja, Umeko ist die Leitfigur, doch wird das Geschehen aus vielen Blickwinkeln und auf verschiedenen Zeitebenen beleuchtet.
Stephan Thome ist Sinologe und hat soeben parallel zum „Pflaumenregen“ den Band „Gebrauchsanweisung für Taiwan“ bei Piper veröffentlicht. Darin hält er fest, warum er sowohl die Landeskunde als auch den Roman geschrieben hat. Zum einen wollte er „anderen von der faszinierenden Geschichte der schönen Insel“ erzählen, zum anderen diese „auch selbst besser verstehen.“ Die Gebrauchsanweisung ist eine hervorragende Einführung, die immer wieder zurückkehrt zu Stephan Thomes eigener Annäherung an das Land. Der vorläufige Höhepunkt dieses Prozesses war die Hochzeit mit der Taiwanerin Jo-chiao im Jahre 2020 in Taipei. Der Piper-Band lohnt sich überdies als ergänzende Lektüre zum Roman. Auch tauchen darin einige Personen auf, bei denen der Autor als Romancier Anleihen genommen haben könnte.
Das Schweigen der Alten
In „Pflaumenregen“ setzt Stephan Thome seine intime Kenntnis des Landes geschickt ein, ohne sie schulmeisterlich auszuwalzen. Dabei nimmt er hinreichend Rücksicht auf die europäischen Leserinnen und Leser, denen viele der fernöstlichen Ereignisse unbekannt sein mögen. Wer weiß denn schon, dass mit der Zahl „228“ auf das Massaker vom 28. Februar 1947 und die nachfolgenden „Säuberungen“ Bezug genommen wird, denen zwischen 10.000 und 30.000 Taiwaner zum Opfer fielen? Heute ist der Tag ein nationaler Gedenktag in Taiwan.

Historisch konnotiert sind einige Familiengeheimnisse in diesen Roman. Und die Alten leisten nur wenig Beistand, um die politischen wie privaten Leerstellen in der Überlieferung zu füllen. Dazu gehören Fragen nach dem Gefangenlager, in dem britische Soldaten interniert waren, nach Umekos verschwundenem Onkel, nach ihrem Bruder Keiji, der zehn Jahre inhaftiert war, oder nach der Beziehung zwischen der japanischen Lehrerin Honda und Umekos Vater. Ganz zu schweigen von Umekos freudloser Ehe. Einiges wird angedeutet, vieles bleibt unausgesprochen.
Mit Baseball zum Wesentlichen
Es ist Julie bzw. Zhu-li, die einen Blick in das Manuskript ihres Onkels wirft und korrigierend feststellt, dass Umeko als Kind keine Zöpfe getragen habe. Sie spielt damit auf genau die flatternden Zöpfe an, mit denen Umeko auf Seite elf in den Roman stürmt. Ist also Harry der heimliche Erzähler von alledem? Dafür spricht auch Julies Hinweis, dass für ihren Geschmack zuviel von Baseball die Rede sei. Für unseren Geschmack auch. Doch Harry sieht das offensichtlich anders. Auch zitiert Thomes in seiner „Gebrauchsanweisung für Taiwan“ den offenbar geläufigen Spruch, „demzufolge das Land nicht verstehen kann, wer von Baseball nichts versteht.“
Der Autor, der schon mit drei seiner mittlerweile fünf Romane auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, malt ein Historiengemälde, das hierzulande kaum vertraute Fakten vermittelt. Allein das ist ein Gewinn. Zudem macht er deutlich, wie wild verwachsen die Wurzeln der Herkunft sein können. Die Frage, wo die Heimat ist, beschäftigt hier zumal die jüngere Generation, die international aufgestellt ist zwischen London und Hongkong, New York und Taipei. Da wird die Identität zum Puzzle und „Pflaumenregen“ zu einem exemplarischen Zeitroman.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog findet sich eine Besprechung von Jessica Lees Taiwan-Porträt „Zwei Bäume machen einen Wald“ – und zwar HIER.
Eine dreiteilige Reisereportage über Taiwan findet sich ebenfalls auf diesem Blog: Teil 1 über eine Autofahrt quer durchs Land gibt es HIER ,
Teil2 über die Fülle der Speisen HIER und
Teil 3 mit lauter Bücherspuren HIER.
Stephan Thome: „Pflaumenregen“, Suhrkamp, 526 Seiten, 25 Euro. E-Book: 21,99 Euro.
Stephan Thome: „Gebrauchsanweisung für Taiwan“, Piper, 222 Seiten, 15 Euro. E-Book: 12,99 Euro.
Pingback: Stephan Thome - Pflaumenregen - LiteraturReich
Vielen Dank für die schöne Besprechung – und ebenso für die freundliche Verlinkung.
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