
Nachdem ich Bücher über meine Großmutter und meinen Vater geschrieben hatte“, lesen wir in Monika Helfers Roman „Löwenherz“, „war ich eine Zeit lang sehr unruhig, da hat Michael zu mir gesagt, ich solle ein drittes Buch schreiben, nämlich das Buch über meinen Bruder.“ Es kommt selten vor, dass Leserinnen und Leser so freiheraus in die Entstehungsgeschichte eines Buches eingeweiht werden. Auch wenn wir wissen, dass man das Ich in einem Kunstwerk nicht leichtfertig mit einer real existierenden Person gleichsetzen darf, so spricht hier wohl nichts dagegen.
Michael Köhlmeier als Zeuge und Akteur
Monika Helfers Ehemann, der Schriftsteller Michael Köhlmeier, wurde schon in den Vorgängerromanen „Die Bagage“ und „Vati“ das eine oder andere Mal erwähnt. Doch diesmal ist von ihm häufiger als zuvor die Rede. Nicht nur als Anreger für den Roman über Richard, der von seinem Vater „Löwenherz“ genannt wurde. Auch kommt Michael Köhlmeier als Kollege ins Spiel, der Rat geben kann bei der Arbeit am Text. Noch erheblicher ist allerdings, dass er mit Richard befreundet war. Daher wird er als Quelle angezapft und als Akteur ins Feld geführt.
Bereits Monika Helfers schmale Bände über die Großmutter und über den Vater schilderten Menschen, denen das Leben nicht leichtfiel. Mal waren es äußere Umstände, mal innere Bedrängnisse, die da wirksam wurden. Im Falle von Richard, möchte man annehmen, findet beides zusammen.
„Er ist einfach nur ein Hund“
Es ist ein imponierendes Buch, bei dem schon auf der zweiten Seite geklärt ist, dass es nicht gut enden wird: Als Richard 30 Jahre alt ist, bringt er sich um. Das Leben, das er bis dahin führt, ist fern vom Konventionellen. Nach dem frühen Tod der Mutter und dem nachfolgenden Rückzug des Vaters in ein Kloster (aber nicht als Mönch) lebt Richard bei Tante Irma, während seine drei Schwestern Monika, Gretel und Renate bei Tante Kathe unterkommen. Später arbeitet er als Schriftsetzer.
Er träumt davon, in einer Badewanne über den Bodensee zu treiben, und malt bunte Bilder, auf denen die Porträtierten stets geradewegs aus dem Bild schauen. Von sich selbst sagt er, dass er eine lange Leitung habe. An seiner Seite trippelt Schamasch: „Er kann nichts. Gar nichts. Er ist einfach nur ein Hund.“
Die Erzählungen des Schmähtandlers
Zwei Käuze sind das, wie es heißt, zu denen sich ein dritter gesellt: Putzi. Das kleine Mädchen sagt „Papa“ zu ihm. Doch das hat nichts mit der Realität zu tun, sondern nur mit der übergriffigen Mutter Kitti, die es mit den Männern „nicht so genau“ nimmt. Als die Zufallsbekanntschaft einmal eine Auszeit braucht, gibt sie das Kind bei Richard ab. Bei diesem einen Mal bleibt es nicht. Dass sich Richard mit seiner monatelangen Fürsorge für Putzi in größte Schwierigkeiten bringen könnte, ist ihm vielleicht bewusst, aber hat keine Bedeutung für ihn.
Richard erfindet leichthin Geschichten, die er als Tatsachen ausgibt. Im Buch heißt es: „Außer seinen Geschichten hatte mein Bruder nicht viel zu bieten. Kein Geld und keine Ambition, jemals viel davon zu haben, keinen Ehrgeiz.“ So einen Geschichtenerzähler nennt man in Österreich einen „Schmähtandler“ – es ist eines der schönen Wörter, die nicht in jedem deutschsprachigen Roman auftauchen (wie auch „hatschen“, „herumnasen“ und „Spundus haben“, wie „Kraxen“, „Kutzen“ und „Gestopfte“).
Suche nach der verlorenen Zeit
Richard wirkt nicht unglücklich. Jedenfalls nicht, solange Putzi in seiner Nähe ist. Das Glas ist aus seiner Sicht meistens halb voll. Auch wenn es um das eigene Leistungsvermögen geht: „Ich kann gut schwimmen, aber nur, wo ich noch stehen kann.“ Gretel, eine von drei Schwestern, urteilt über ihren Bruder: „Er sei ein Glückskind, das sich sein Unglück selbst schaffe.“ Die Erzählerin tut dies zunächst als Floskel ab. Doch der Satz bleibt beim Lesen hängen.
Monika Helfer erzählt in „Löwenherz“ abermals von der Suche nach der verlorenen Zeit. Diese unternimmt sie gleichermaßen behutsam wie offenherzig. Sie lässt uns teilhaben an ihrer Recherche, gibt Einblick in ihre Gefühlslage, benennt Zweifel am Geschilderten: „Aber vielleicht vermerkwürdige ich ihn.“ Weil man nie sicher sein kann, ob das Bild, das man sich von einem Menschen macht, das wahre ist, steht über alledem eben nicht Biografie oder Memoir, sondern Roman.
Das Ringen um die Wahrheit
„Löwenherz“ ist von den drei Familienromanen, so scheint es, am dichtesten dran an seiner Hauptfigur. Monika Helfer kennt die Großmutter nur aus Erzählungen, den Vater erlebte sie als Kind – Richard hingegen hat sie immerhin ein kurzes Leben lang aus der Nähe beobachten können. Es ist ein beklemmendes, ein packendes Erinnerungsbuch. Nicht zuletzt bewegend aufgrund seines intensiven Ringens um die Geschichte des Bruders. Ein Roman wie aus dem richtigen Leben – reich an Erstaunlichem und ohne Happy End.
Martin Oehlen
Randnotiz
Auch Widmungen haben ihre Geschichte. Den Romanen „Die Bagage“ (2020) und „Vati“ (2021) hat Monika Helfer die Widmung „für meine Bagage“ mitgegeben. Ihr Ehemann Michael Köhlmeier hatte seinerseits und seinerzeit seinem Roman „Bruder und Schwester Lenobel“ (2018) die Widmung „für die Familie“ vorangestellt. Für seinen Roman „Matou“ (2021) hat er dann Monika Helfers Formulierung aufgegriffen und leicht modifiziert: „für unsere Bagage“. Diese Version übernimmt nun wiederum die Ehefrau in „Löwenherz“: „für unsere Bagage“.
Auf diesem Blog
finden sich Besprechungen zu Monika Helfers „Die Bagage“ (HIER) und „Vati“ (HIER). Außerdem hat Monika Helfer einen Buchtipp für den Bücheratlas formuliert: „Rohstoff“ von Jörg Fauser (HIER).
Lesungen
Monika Helfer gastiert auf ihrer Lesetournee in Hannover (22. Februar), Hamburg (23. Februar), Köln (zusammen mit Michael Köhlmeier, 23. März), Frankfurt (erneut mit Michael Köhlmeier, 24. März), Neuchatel (in der Schweiz, 31. März 2022).
Monika Helfer: „Löwenherz“, Hanser, 192 Seiten, 20 Euro. E-Book: 15,99 Euro.

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Eine schöne Besprechung eines schönen Buches. Und vielen Dank für den freundlichen Hinweis auf den Bücheratlas!
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Ich hörte die Hör CD dieses Buches und war nicht nur von dem Inhalt- sondern auch von der Stimme der Autorin fasziniert. Ich hoffe, sie hat noch andere Bücher, von sich selbst, gelesen. Ein sehr gutes Buch- Vielen Dank, Monika Helfer!
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Sehr gerne geschehen! Auch die Vorgängerromane kann ich nur empfehlen. Viel Vergnügen beim Lesen beziehungsweise Hören!
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