
Paul Celan wurde vor 100 Jahren geboren, am 23. November 1920 in Czernowitz, das damals zu Großrumänien gehörte und heute in der Ukraine liegt. Der Lyriker nahm sich mutmaßlich am 20. April 1970 in Paris das Leben. Sein Werk und Leben hat der Suhrkamp Verlag in jüngster Zeit mehrfach gewürdigt. Dazu zählen die kommentierte Gesamtausgabe der Gedichte (die wir auf dem Blog HIER besprochen haben), ausgewählte Briefe von 1934 bis 1970 ( HIER ) und Erinnerungen von Klaus Reichert, dem langjährigen Lektor ( HIER ). Angesichts dieser Fülle könnte mancher meinen, dass das Reservoir ausgeschöpft sei – und wird nun eines Besseren belehrt.
Denn die „Erinnerungen an Paul Celan“, die Petro Rychlo zusammengestellt hat, bieten neben manch Bekanntem auch bislang unveröffentlichte, erstmals auf Deutsch oder bislang abseits veröffentlichte Texte. Rychlo, Professor für fremdsprachige Literatur an der Universität Czernowitz/Chernivitsi, hat die 55 Beiträge chronologisch nach den vier großen Lebensstationen geordnet: Czernowitz, Bukarest, Wien und Paris. Sein abschließende Kommentar verbindet die einzelnen Zeitzeugnisse zuverlässig.
Was hier „Mit den Augen der Zeitgenossen“ – so der Titel – erzählt wird, fügt sich zu einem stimmstarken, aufschlussreichen, auch mehr als einmal beklemmend klingenden Chor. Vor allem gibt es Auskünfte zur Person, aber auch zum Werk. Von einem großen Dichter ist die Rede, von einer so einnehmenden wie fordernden Persönlichkeit und von einem tragischen Leben im Zeichen des Holocausts. Da geht es um Schönheit und Sprache, Schärfe des Urteils und Hartnäckigkeit des Wahns, um Nazi-Verfolgung in Czernowitz und Neonazi-Gebrüll in Hannover.
Exemplarisch zitieren wir im Folgenden einige Passagen aus diesen vielen eindrucksvollen Erinnerungen.
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„Ein selten schöner Mensch“
Ilse Goldmann in einem Brief an Israel Chalfen (1973)
Ich mochte ihn vom ersten Blick an nicht. Meine Abneigung stammte wie unüberwindliche Abneigungen eben aus der Physis. Dabei müssen Sie wissen, dass er damals ein selten schöner Mensch war, ganz in der Art jugendlicher Romantiker: etwa Byron oder Shelley, mit sanften Rehaugen und einem goldüberhauchten Pfirsichton der Haut, mit langen, schlanken, sehr ebenmäßigen Gliedern, einer seiner verständnisvollen Bewunderer verglich ihn mit einer jungen Erle, nicht zu Unrecht – und er erweckte in mir unüberwindliche Abneigung, dass mir eine herzhafte Hässlichkeit erfrischend vorkam, manchmal schien mir um ihn eine Schwüle wie in einem Treibhaus voller Orchideen zu herrschen.
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„Er wollte ‚alles‘ haben“
Ruth Kraft im Gespräch mit Israel Chalfen (Köln, 21. Mai 1972)
Paul war ein gütiger Mensch, keineswegs hart, aber sehr anspruchsvoll. Er wollte »alles« haben und war mit keinem Erfolg zufrieden. Er wollte das »Absolute«. Er war, trotz seiner Geselligkeit, mit der er alle hinreißen konnte, ein sehr egozentrischer Mensch, der wollte, dass alles um ihn kreise!
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„Dieses Schuldgefühl“
Alfred Kittners Erinnerungen
Im Sommer 1942 wurden Weißglas [ein Freund Celans] und ich mit unseren Familien in Vernichtungslager am Bug, im Süden der Ukraine, deportiert, und es war als Glück im Unglück zu bezeichnen, dass wir im selben Transport, im selben Viehwaggon die Todesreise antraten und den größten Teil der schicksalsschweren Zeit zusammenblieben. Paul drohte das gleiche Los, doch er versteckte sich bei Bekannten und entging so der Verschickung, so dass nur seine Eltern an den Bug getrieben wurden, während er als Daheimgebliebener später einem Arbeitsdetachement im Lande, in der Moldau, zugeteilt wurde. Also geriet er nicht unmittelbar in den Limbus des Todes. Als er uns nach den Jahren der Drangsale und Qualen mit unseren Familien, Weißglas mit seinen Eltern, zurückkehren sah, muss er einen schweren, nie überwundenen psychischen Schock erlitten und sein Gewissen schwer belastet gefühlt haben: Es war der Gedanke, dass er vielleicht die Ermordung seiner Eltern im Lager hätte abwenden können, wenn er mit ihnen gegangen wäre. Dieses Schuldgefühl dürfte den ersten Anstoß zu seiner späteren schweren psychischen Erkrankung gegeben haben, die schließlich zum Freitod führte.
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„In die Finsternis hinuntersinken“
Klaus Demus im Gespräch mit Anja S. Hübner und Detlev Schöttker
Es ist eine furchtbare Sache, einen von Natur begnadeten Menschen so in die Finsternis hinuntersinken zu sehen. Aber man begreift das auch heute noch nicht. Die Sprachfähigkeit war genial bis zuletzt, der Gebrauch davon wurde es immer weniger.
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„Ein Wissen ungeheuerlicher Art“
Günter Grass im Gespräch mit Claus-Ulrich Bielefeld und Dieter Stolz
Er hatte anfangs eine Art, die auf einige Autoren vielleicht einschüchternd wirkte, so etwas Stefan-George-haftes. Er sprach dennoch wohlwollend mit den jüngeren Kollegen, und ich war damals viel frecher als heute. Ich habe ihm gleich zu Anfang gesagt, ich bin nicht die Wand, zu der Du sprichst. Und dann hatten wir richtige Streitgespräche. Ich habe allerdings auch deutlich gemacht, dass ich von ihm viel lernen konnte, viel gelernt habe, und ihm dafür sehr dankbar war. Ich war wild belesen, mit großen Löchern dazwischen, während dieser Mann ein Wissen ungeheuerlicher Art hatte.
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„Im Beisein Paul Celans!“
Wieland Schmied Erinnerungen an einen Besuch von Paul Celan in Hannover
Und plötzlich – am Nebentisch mussten Rechtsradikale Platz genommen haben, ich hatte nicht darauf geachtet – wurde neben uns das Horst-Wessel-Lied angestimmt. Das Horst-Wessel-Lied! In Hannover! Im Beisein Paul Celans! Vor Scham wäre ich am liebsten im Boden versunken. Es hilft nichts, wenn man sagt: Paul Celan zog das Unglück an. Es half auch wenig, dass der Wirt, wohl selbst erschrocken, an den Nachbartisch kam und für Ruhe sorgte. Es war zu spät. Es war passiert.
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Das sind – wie gesagt – nur kleine Einblicke. Sie mögen andeuten, was hierzu zu sagen ist: Diese „Erinnerungen an Paul Celan“ sind ein so reiches wie bereicherndes Lesebuch.
Ganz am Ende kommt Peter Härtling zu Wort, der sich an die letzte Begegnung erinnerte, nicht lange vor Paul Celans Freitod in der Seine vor 50 Jahren: „Schreiben Sie mir doch, sagte er zum Abschied, auch wenn ich nicht antworte.“
Martin Oehlen
Petro Rychlo (Hg.): „Mit den Augen von Zeitgenossen: Erinnerungen an Paul Celan“, Suhrkamp, 480 Seiten, 28 Euro. E-Book: 23,99 Euro.

Hat dies auf Wortspiele: Ein literarischer Blog rebloggt und kommentierte:
Paul Celan im „Bücheratlas“ von Petra Pluwatsch und Martin Oehlen anlässlich des 100. Geburtstags des Dichter heute … Und einmal mehr ist der Beitrag äußerst informativ und somit deutlich zum Lesen empfohlen!
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Tausend Dank, lieber Wolfgang, für das freundliche Kommentieren und Teilen. So darf der Tag weitergehen.
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danke für diesen wunderbaren beitrag!
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Sehr gerne! Und ich danke herzlich für das Lob.
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