
Iwan Gontscharow arbeitete als Beamter in Sankt Petersburg – was ihn oft vom Dichten abhielt. Foto: Bücheratlas
Ilja Iljitsch Oblomow kommt mit der sozialen Distanz so gut klar wie nur wenige andere. Meistens liegt der Gutsbesitzer aus Sankt Petersburg sowieso in seinem Bett. Vor die Türe zu treten, ist ihm ein Gräuel. Und als ihm sein Arzt zur Luftveränderung rät, am besten in einem der Heilbäder in Deutschland, ist er entsetzt: „Ich bitte Sie, Doktor, ins Ausland! Wie soll das gehen?“ Das Liegen im heimischen Bett ist für Oblomow keine Notwendigkeit, keine Zufälligkeit, kein Genuss – sondern „sein Normalzustand“.
Tolstoi liest ein kapitales Stück
Als Iwan Gontscharow (1812 – 1891) seinen „Oblomow“ im Jahre 1859 in die Literaturwelt einführte, wurde der Roman begeistert aufgenommen. Der junge Lew Tolstoi schrieb an einen Literaturkritiker: „Das ist wirklich ein kapitales Stück, so etwas hat es schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegeben.“ Die Nachfrage sorgte für einige Neuauflagen, die der Autor jeweils zu Bearbeitungen genutzt hat. Fast scheint es, als sollte dieser Text niemals abgeschlossen sein.
Dazu passt das lange Ringen bis zur Veröffentlichung. Ein Kapitel war 1849 als Vorabdruck erschienen. Doch dann ging es nicht voran. Gontscharow war hin- und hergerissen zwischen seinem intensiven Beamten-Dasein in Sankt Petersburg und seiner künstlerischen Passion. Als er sich im Finanzministerium drei Monate Urlaub nimmt, um das Romanprojekt voranzutreiben, reist er in seine Heimstadt Simbirsk an der Wolga – und wird dort von all dem Heimatlichen so sehr abgelenkt, dass er nicht zum Schreiben kommt. Dies am Rande: Ebenfalls in Simbirsk wurde 1870 Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin geboren, dem zu Ehren die Stadt in Uljanowsk umbenannt worden ist.
Auch nicht förderlich war es, dass Gontscharow 1852 im Auftrag des Zaren an einer zwei Jahre dauernden Weltreise teilnehmen musste. Anschließend wurde er zum Zensor bestimmt (offenbar zum Wohle vieler Autoren). Überdies war er unglücklich verliebt. Wie sollte er da auch noch sein kolossales Romanwerk stemmen können? Ein Wunder musste her. Und das ereignete sich, als sich der schwächelnde Autor 1857 zur Kur im böhmischen Marienbad aufhielt. Eine Explosion der Inspiration sorgte dafür, dass er endlich den ersten Teil des (vierteiligen) Romans vollenden konnte. Das Wunder von Marienbad.
Die vielen Fallen beim Übersetzen
Die Genese dieses Großwerks schildert Vera Bischitzky, die Herausgeberin und Übersetzerin der „Oblomow“-Edition im Hanser-Verlag. Diese Ausgabe ist in jeder Hinsicht imposant – in Gestaltung, Kommentierung und einer Übertragung, die historisches Kolorit und moderne Geschmeidigkeit zu vereinen weiß. Die Erläuterungen sind eine Fundgrube! Bischitzky verweist unter anderem auf den Einfluss von Nikolaj Gogol und dessen 1842 erschienenem Roman „Die toten Seelen“ (den sie ebenfalls neu übersetzt hat, in dem Fall bei Artemis & Winkler). Und sie skizziert die vielen Fallen, in die man als Übersetzerin tappen kann – und in die einige ihrer Vorgänger getappt sind.
Mit Gontscharows Epos ist eine neue Vokabel ins öffentliche Bewusstsein gelangt. So bezeichnet die „Oblomowerei“ ein Verharren in Lethargie und Tatenlosigkeit. Das wussten ehedem nicht wenige Leser auf die Zustände im Zarenreich zu münzen. Doch damit ist der Charakter des Romanhelden beileibe nicht ausbuchstabiert.
Das Leben hält einen in Atem
Oblomow hat einige Facetten. Einerseits ist er apathisch, unschlüssig, kraftlos und allzu gutgläubig aus schlichter Trägheit. Andererseits ist er gebildet, intelligent, auch kunstsinnig. In Gesellschaft allerdings langweilt er sich schnell, zumal wenn es um Klatsch und Intrigen geht. Da zieht er sich lieber zurück – und gähnt zuhause. Und je mehr er gähnt, desto müder wird er: „Sollte er zum Beispiel einen Kerzendocht stutzen oder Wasser in ein Glas gießen: er verwandte darauf die gleiche Kraft, die nötig ist, um ein Tor aufzumachen.“ Oblomow skizziert Pläne, aber lässt keine Taten folgen.
Dabei wäre doch so viel zu tun. Zwei zentrale Kümmernisse beschäftigen ihn über viele, viele Seiten, ohne dass er einer Lösung näherkäme: Sein Gut in der Provinz, das nach Auskunft des (betrügerischen) Verwalters immer weniger Geld einbringt; und dann noch der Vermieter, der ihm die Wohnung gekündigt hat. Doch statt zu handeln, liegt Oblomow im Bett, klagt dem einen oder anderen Besucher sein Leid und ruft zuweilen aus: „Ach, du lieber Himmel! Das Leben hält einen in Atem, überall packt es dich am Schlafittchen.“
Olga ist die Liebe seines Lebens
Trotzdem ist uns dieser Oblomow sympathisch. Auch weil er freundlich ist zu allen. Im Prinzip jedenfalls. Seinen alten Diener Sachar kommandiert er allerdings zuweilen herbei, ohne dann zu wissen, was er von ihm wollte. Und einmal, gegen Ende, verpasst er dem miesen Tarantjew eine schallende Ohrfeige, gegen die allerdings nichts einzuwenden ist.
Ja, dieser Oblomow hat, was man ein großes Herz nennen könnte. Das bestätigt uns Olga, in die er sich verliebt, nachdem sie ihm die Arie „Casta diva“ aus Vincenzo Bellinis Oper „Norma“ vorgetragen hat. Plötzlich ist er ein anderer, ein buchstäblich aufgeweckter Mensch. Olga ist die Liebe seines Lebens. Sein Dasein hat wie aus dem Nichts ein Ziel gefunden. Doch dann lässt er diese Liebe fahren, weil er glaubt, Olga sei zu jung für ihn und könne ihn doch gar nicht wahrhaft lieben. Ihr schreibt er, sie möge auf ihren wahren Bräutigam warten. Eine traurig-famose Liebesgeschichte ist das.
Der Glückliche, den Olga schließlich heiratet, ist ausgerechnet Oblomows einziger Freund. Der umtriebige Andrej Iwanowitsch Stolz, ein Deutscher väterlicherseits, hilft Oblomow einige Male aus der Patsche. Doch aus der Trägheit kann auch er ihn nicht retten.
Der Einfluss der Deutschen
Dass Gontscharow ausgerechnet einen Deutschen zum aktiven, beharrlichen, international agierenden Gegenpart zu Oblomow gewählt hat, sei ihm, schreibt der Autor, zum Vorwurf gemacht worden. Doch sei das kein Fehler gewesen, „wenn man jene Rolle bedenkt, die das deutsche Element und die Deutschen im russischen Leben spielten und noch immer spielen. Bis heute sind sie bei uns Lehrer, Professoren, Mechaniker, Ingenieure in allen Bereichen.“ Und was sagt man als Russe dazu? „Das ist natürlich ärgerlich, doch es ist nur recht und billig – die Gründe dafür liegen in eben jener Oblomowerei (unter anderem auch in der Leibeigenschaft).“
Stolz ist es, der diese ganze lange Geschichte einem befreundeten „Literaten“ erzählt hat. Das wird auf der letzten, der 746. Seite verraten. Was jener Erzähler aus dem Material gemacht hat, ist ein überragender Roman – beklemmend, poetisch, komisch. Selbst Oblomow hätte hier wohl keinen Grund zum Gähnen gefunden.
Martin Oehlen
In der Corona-Bibliothek liegen bislang vor:
Albert Camus mit „Die Pest“ – HIER,
Giovanni Boccaccio mit dem „Dekameron“ – HIER ,
Daniel Defoe mit „Robinson Crusoe“ – HIER .
Jules Verne mit „In 80 Tagen um die Welt“ – HIER .
Iwan Gontscharow: „Oblomow“, hrsg. und übersetzt von Vera Bischitzky, Hanser, 840 Seiten, 34,90 Euro.
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Besten Dank für diesen sehr feinen Hinweis!
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