Corona-Lektüre (3): Daniel Defoe schickt Robinson Crusoe in die Isolation

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Foto: Bücheratlas

Robinson Crusoes soziale Kontakte sind auf Null gestellt. Weniger geht nicht. Auf seiner „Insel der Verzweiflung“ ist er abgeschnitten „von allem menschlichen Umgang“. Das nun schon seit vielen Jahren. Da merkt man erst, wie wichtig es ist, sich mit anderen auszutauschen. Aber Resignation in der Isolation? Das ist keine Option.

Das abenteuerliche Leben des Autors

Daniel Defoe (1660 – 1731) war bereits 59 Jahre alt, als er seinen ersten Roman veröffentlichte: „The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe“. Weitere Titel sollten folgen, auch zwei Fortsetzungen der Ur-Robinsonade. Doch keines seiner Werke wurde so populär wie dieses Debüt. Ein Weltbestseller bis heute. Als „Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe“ im Jahre 1719 erschien, hatte Defoe selbst schon ein abenteuerliches Leben hinter sich. Und es passt zu seinem Schicksal, dass er von dem bereits zu seinen Lebzeiten einsetzenden Buch-Erfolg nicht viel mehr als den Ruhm erntete – die Einnahmen gingen zum größten Teil an seinen Verleger.

Defoe wurde 1660 in London geboren. Damals trug er noch den Nachnamen Foe, dem er später ein adliges De voranstellte, weil sich das halt gut macht. Für das Kind kam es gleich sehr dicke. Es erlebte in London die Große Pest von 1665, im Jahr darauf den Großen Brand, wiederum ein Jahr später den Einmarsch der Niederländer. Als Daniel zehn Jahre alt war, starb seine Mutter. Im englischen Thronstreit kämpfte der frühe Aufklärer auf der falschen Seite und musste nach Frankreich fliehen. Zurück in London baute er ein Handelsunternehmen auf, das nach anfänglichen Erfolgen bankrottging, worauf er ein Ziegeleiwerk übernahm. Zu den weiteren Auffälligkeiten seines Lebens gehört, dass er für Queen Anne die Stimmung im Norden des Landes auskundschafte, nachdem England und Schottland offiziell zum Königreich Großbritannien vereinigt worden waren – eine Spionagetätigkeit, zu der er angeblich gezwungen worden war.

Als Herzenssache galt ihm hingegen seine publizistische Tätigkeit. Ein Publikumserfolg war die 1701 veröffentlichte Satire „The True-Born Englishman“ („Der waschechte Engländer“). Hingegen brachten ihn 1703 seine Angriffe auf die Kirche an den Pranger und ins Gefängnis. Mit „The Review“ gab er Englands erste Wochenzeitung heraus. Im Lande gilt er daher als „Vater des Journalismus“. Überdies wird er als „Vater des Romans“ gerühmt. Das von ihm eingeführte Subgenre der „Robinsonade“ ist zeitlos populär.

Zurück in den Naturzustand

„Robinson Crusoe“ ist eine moralische Geschichte. Sie erzählt von dem Jungen aus York, der nicht auf die Worte seines Vaters („ein Ausländer aus Bremen“) hört und Jurist wird, sondern der hinauszieht in die Welt. Folgerichtig erlebt er erst einmal allerlei Unbill und dann auch noch den entscheidenden Schiffbruch, den er als einziger an Bord überlebt. Er kann sich auf eine einsame Insel im Atlantik retten, „nahe der Mündung des großen Orinoko-Stromes“. Dort fällt er aus der Zivilisation heraus und darf noch einmal im Naturzustand beginnen – also nahezu im Naturzustand.

Ein paar existentielle Krisen sind zu meistern, psychische und physische. Doch er nutzt die Chance zur Bewährung, als wäre er ein junger Ritter in einem mittelalterlichen Epos, und erlernt einige Kulturtechniken. Hilfreich ist dem Sohn aus strenggläubigem Elternhaus die Bibel-Lektüre. So kolonisiert er Saat ausbringend und Vieh haltend einen Teil der Insel; und er missioniert den „Wilden“, den er Freitag nennt und der bald schon „ein guter Christ“ ist, sogar „ein besserer als ich“.

So ein Held wie Robinson hat dann auch die Erlösung verdient. Nach 28 Inseljahren erfolgt die Rettung durch ein vorbeisegelndes Schiff.

In der Krise an das Gute denken

Der Roman passte in eine Zeit, in der Europas Großmächte um Kolonien stritten und die Überlegenheit der Weißen als gottgegeben angesehen wurde. Er passt aber auch in unsere Corona-Gegenwart, in der Ausnahmezustand und Kontaktsperre eine weltweite Erfahrung sind.

Früh schon beklagt Robinson sein Schicksal. Doch dann ruft er sich zur Ordnung: „Bei allen Übeln muss man auch das Gute bedenken, das in ihnen steckt, und das Ärgere, das hätte eintreten können.“ Defoe wiederholt diese Einsicht einige Male, so dass man meinen möchte, der gebeutelte Autor spreche sich selbst Mut zu. Seinen Robinson lässt er eine tabellarische Gegenüberstellung von „Übel“ und „Gut“ anfertigen. Übel findet er beispielsweise: „Ich bin von allen Menschen getrennt, ein Einsiedler, verbannt aus aller menschlichen Gemeinschaft.“ Dem stellt er das Gute gegenüber: „Aber ich bin doch nicht Hungers gestorben und verdorben an einem unfruchtbaren Ort, der keine Nahrung bietet.“

Ohne Nahrung ist Robinson tatsächlich nicht. Immerhin hatte er aus dem Schiffswrack retten können, was zu retten ist: „Ich glaube, ich hatte nun das größte Lager von Dingen aller Art, das jemals für einen einzelnen Menschen angelegt worden ist.“ Der glückliche Hamsterer findet vieles – vom Segelgarn über Reis und drei Fässer Rum bis zu einer Ladung Pulver. Um nicht das Zeitgefühl zu verlieren und um nicht „den Sonntag nicht mehr vom Werktag“ unterscheiden zu können, beginnt er sein Tagebuch. Darin hält er eines Tages fest, wie sehr ihn Schüttelfrost und Fieber gepackt hätten. Da greift er nicht in den Apothekenschrank, sondern zur Bibel.

Allemal treibt Robinson „eine starke und heftige Begierde nach der Gesellschaft anderer Menschen“ um. Die Kannibalen-Truppe, die ab und an die Insel für einen Schmaus ansteuert, kommt nicht infrage. Wohl aber dieser flüchtende „Wilde“, den er vor dem Zugriff der Menschenfresser bewahren kann. Wie „lieblich“ war es, nach 25 Jahren endlich wieder eine menschliche Stimme zu vernehmen. Jetzt musste der Fremde nur noch Englisch lernen. Robinson nennt ihn „Freitag“, sich selbst stellt er als „Herr“ vor. Womit die Rollenverteilung geklärt ist. Die Unterwerfung klappt vortrefflich. Bald schon kann Robinson mitteilen: „Nie hatte wohl ein Mensch einen treueren, redlicheren und liebvolleren Diener als ich in Freitag.“

Das Vorbild des Alexander Selkirk

Für seinen „Robinson Crusoe“ hatte Defoe auf eine reale Geschichte zurückgegriffen. Der schottische Bootsmann Alexander Selkirk hatte sich 1704 auf der Insel Más a Tierra, mitten im Pazifik und weit vor der chilenischen Küste gelegen, aussetzen lassen. Seine Motivation ist ungesichert. Möglicherweise sind dem streitbaren Seemann die Nerven durchgegangen, möglicherweise hatte er tatsächlich geahnt, dass die morsche „Cinque Ports“, auf der er unterwegs war, über kurz oder lang untergehen würde – was sie dann auch tat. Jedenfalls lebte er mehr als vier Jahre allein auf der menschenleeren, aber Wasserquellen aufweisenden Insel, bis die „Duke“ seine Rauchzeichen entdeckte.

Der vulkanische Flecken im Ozean, den Selkirk 1709 verließ, erhielt 1966 den Namen „Robinson Crusoe“ und zählt heute rund 1000 Einwohner. Immerhin – den Namen des Schotten trägt mittlerweile eine 160 Kilometer entfernte Insel, die ebenfalls zum Archipel der Juan-Férnandez-Inseln zählt. Die Isla Alejandro Selkirk ist noch heute unbewohnt. Welches Buch man auf eine solch einsame Insel mitnehmen sollte, wenn man denn reisen dürfte? Wir wüssten da was.

Martin Oehlen

http://www.ksta.de

Weitere Titel aus dieser Reihe:

Albert Camus und „Die Pest“ – eine Annäherung über Uwe Timm gibt es HIER.

Giovanni Boccaccio und „Das Dekameron“ – eine Annäherung über Theater-Lesungen  gibt es HIER.

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Wer nun dieses Werk (oder ein anderes) erwerben will, der ist beim lokalen Buchhandel bestens aufgehoben. Nicht vergessen – sehr viele Buchhändlerinnen und Buchhändler bieten ihre Titel online an und liefern frei Haus. Der deutsche Buchhandel ist einzigartig – das soll er auch bleiben.

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Daniel Defoe: „Robinson Crusoe“, dt. von Hans Reisiger, Manesse, 568 Seiten, 22,90 Euro.

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