„Gedichte, mit denen man raufen will“: Monika Rinck spricht über Christine Lavant beim zweiten „Anderland“-Festival in Köln (1)

Porträt von Christine Lavant am Robert-Musil-Haus in Klagenfurt in Österreich. Die Fassade wurde vom Künstler Jef Aérosol gestaltet.   Foto: Bücheratlas 
 

Die Reise durchs „Anderland“ geht weiter. Zum zweiten Mal findet das so kleine wie feine Poesie-Festival statt, das die Buchhandlung Klaus Bittner initiiert hat und in Kooperation mit der Stadtbibliothek Köln und dem Institut für Deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln realisiert. Der Titel „Anderland“ beziehe sich auf das „Köln-Poem“ von Jens Hagen, hatte Klaus Bittner beim Start im Mai auf diesem Blog (HIER) gesagt: „Wegweg hier! Wegweg! / Ins Anderland, ins Sonstwoland, ins Küstenland, ans Meer!“ Mit anderen Worten: Dem Festival geht es um die Erkundung fremder lyrischer Länder.

Auf Erkundungsreise

Waren es beim Debüt im Mai Federico Italiano, Raoul Schrott und Jan Wagner, so treten diesmal Jenny Erpenbeck, Monika Rinck und Uljana Wolf auf. Am Montag (6. November 2023) führt die Erkundungsreise, geleitet von Jenny Erpenbeck und Monika Rinck, zu Christine Lavant (1915-1973) nach Österreich. Und am Dienstag (7. November 2023) sprechen Monika Rinck und Uljana Wolf über ihr eigenes Schreiben. Den drei Protagonistinnen nähern wir uns auf diesem Blog in je einem Beitrag. Los geht es mit Monika Rinck – oder doch zunächst einmal mit Christine Lavant.  

Die Erzählerin und Lyrikerin, von der zum Auftakt die Rede sein wird, wurde am 4. Juli 1915 als Christine Thonhauser in St. Stefan im Lavanttal in Kärnten geboren. Sie stammte aus einer armen Familie: Bergarbeiter der Vater, Flickschusterin die Mutter. Sie selbst trug mit Strickarbeiten zum Lebensunterhalt bei. Lebenslang litt sie unter Krankheiten – Sehschwäche, Hörschwache, Nervenschwäche, Tuberkulose obendrein.

Lavant international

Christine Lavant malte und dichtete und brachte Ende der 1940er Jahre ihre ersten Bücher im Brentano-Verlag heraus. Die öffentliche Anerkennung zu Lebzeiten kulminierte im Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur im Jahre 1970. Mittlerweile schmückt ihr Name selbst einen Literaturpreis, den die 2016 gegründete „Internationale Christine Lavant Gesellschaft“ verleiht.

Monika Rinck, Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln, befasst sich schon seit Jahren öffentlich mit dem Werk von Christine Lavant. In Rede und Schrift. Als Erzählerin auf der Bühne, als Gesprächspartnerin auf dem Podium, als Essayistin im Buch.

„Eine ungeheure Kraft“

Wann sie auf das Werk der Lavant aufmerksam geworden ist, weiß sie gar nicht mehr genau, wie sie uns sagt. „Sicher kannte ich zunächst das von Thomas Bernhard herausgegebene Büchlein, der ja eine ganz knappe Auswahl nach seinem eigenen Geschmack macht, mit extremer Betonung des Leids.“ Diese Lesart teilt sie nicht. Sie findet, „dass eine Dichterin, der es gelungen ist, mehrere tausend Gedichte zu schreiben, auch eine ungeheure Kraft haben muss“. Diese Gedichte seien „so stark, dass man mit ihnen raufen will.“

Das sei überhaupt die herausragende Qualität des Werks von Christine Lavant: „Eben diese Stärke, die Kraft des Machens, Neinsagen zu dem, was es schon gibt.“ Selbstverständlich habe es Tragisches im Leben der Lavant gegeben. Aber auch noch manch anderes. In dem Zusammenhang verweist sie auf einen Essay in ihrem Band „Risiko und Idiotie – Streitschriften“ von 2017. Darin bedauert sie, „dass man sich weithin auf eine Lesart der Lavant geeinigt hat, die das Leid, nicht aber die Freude, durchaus auch die Freude am Grotesken und Fatalen, und Lavants enorme Stärke des Machens, Umwandelns und Übersetzens von Affekten in poetische Formen in den Blick nimmt.“

„Bis übers Kinn besoffen“

Monika Rinck führt sodann Christine Lavants Gewitztheit und Aufbegehren anhand des Gedichts vor Augen, das mit den Zeilen anfängt: „Trau der Mannschaft deines Seglers zu, / dass sie tüchtig aus der Trunkenheit / aufstehn könnte, jeder einzeln aufstehn, / jeder noch bis übers Kinn besoffen, / aber hingehn und das Seine tun!“

Ob es Einflüsse der Lavant auf ihr literarisches Schreiben gebe? „Das wage ich nicht zu sagen“, stellt Monika Rinck fest. Aber einige Andeutungen formuliert sie schon. „Ein Einfluss wäre vielleicht die Ermutigung. Die Kontinuität und die Fülle ihres Schreibens. Keine Scheu vor grundstürzenden Affekten – und deren sprachkünstlerische Umformung, Gestaltung, Freisetzung und Bändigung. Oder: Eine Bändigung, die gleichzeitig eine Freisetzung ist.“

Einstieg in den Kosmos

Wer nach einem Einstieg in den Christine-Lavant-Kosmos sucht, dem rät Monika Rinck zur Ausgabe 289 der Lyrik-Reihe „Poesiealbum“, die 2010 im Märkischen Verlag erschienen ist. Zwar ist der preiswerte Band mittlerweile vergriffen. Aber womöglich findet sich noch ein Exemplar im Antiquariat. Nicht gar so kostengünstig ist die vierbändige Werkausgabe aus dem Wallstein-Verlag, die wir dennoch unumwunden preisen (und auf diesem Blog HIER vorgestellt haben).

Darüber hinaus empfiehlt sich selbstverständlich der Besuch der Veranstaltung am Montag (6. November) in der Kölner Stadtbibliothek. Was Jenny Erpenbeck mit Christine Lavant verbindet, folgt in Kürze auf diesem Blog. Anschließend wenden wir uns dann noch Uljana Wolf zu. (Achtung Spoiler: Bei beiden Autorinnen liegen Neuerscheinungen vor.)

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir dem Buchhändler Klaus Bittner zur Premiere des „Anderland“-Festivals im Mai 2023 HIER einige Fragen gestellt (ja, und Antworten bekommen). 

Die Werkausgabe von Christine Lavant haben wir HIER vorgestellt.

Über die Poetica, das Kölner Poetik-Festival, haben wir mehrfach berichtet. Den Jahrgang, den Uljana Wolf kuratiert hat, gibt es HIER

Das Festival

wird von der Buchhandlung Bittner – namentlich von Klaus Bittner und Christoph Danne – in Kooperation mit der Stadtbibliothek Köln und dem Institut für Deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln realisiert. Es findet in diesem November zum zweiten Mal statt. Bei der Premiere im Mai 2023 traten Federico Italiano, Raoul Schrott und Jan Wagner auf.

Die Termine

„Anderland“, das Kölner Festival zur Poesie, findet in diesem Herbst zum zweiten Mal statt. An zwei aufeinander folgenden Tagen steht die Lyrik in der Kölner Zentralbibliothek am Neumarkt im Zentrum. Zu Gast sind Jenny Erpenbeck, Monika Rinck und Uljana Wolf.

Montag, 6. November, 19 Uhr – Der erste Abend ist der österreichischen Dichterin Christine Lavant (1915 – 1973) gewidmet. Zu Beginn wird das Filmporträt „Wie pünktlich die Verzweiflung ist“ (ORF 2023, circa 45 Minuten) gezeigt, das anlässlich des 50. Todestags von Christine Lavant entstanden ist. Anschließend sprechen Jenny Erpenbeck und Monika Rinck über Werk und Person.

Dienstag, 7. November, 19.30 Uhr – Am zweiten Abend stellen Monika Rinck und Uljana Wolf ihre eigenen Werke vor. 

Der Eintritt für einen Abend kostet 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Das Kombiticket für beide Abende kostet 18 Euro.

Anmeldung/Vorverkauf: Buchhandlung Klaus Bittner, Albertusstraße, Köln.

Die Mitwirkenden

Jenny Erpenbeck, 1967 in Ost-Berlin geboren, ist Autorin zahlreicher Romane, Erzählungen und Essays. Ihre Werke wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Internationalen Stefan-Heym-Preis. „Kairos“, ihr jüngster Roman, ist 2021 im Penguin Verlag erschienen. Jüngst veröffentlichte sie eine Monografie über Christine Lavant im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Monika Rinck, 1969 in Zweibrücken geboren, veröffentlichte Essays, Prosa und Gedichte. Ihre Arbeit wurde mehrfach mit Preisen gewürdigt, zuletzt mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Sie war Kuratorin der dritten Ausgabe des Kölner Festivals Poetica und ist Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln. 

Uljana Wolf, 1979 in Berlin geboren, ist Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin. Soeben ist ihr Gedichtband „Muttertask“ bei kooksbook erschienen. Für den Essayband „Etymologischer Gossip“ erhielt sie im vergangenen Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik. Sie erhielt  unter anderem den Peter-Huchel-Preis und den Adelbert-von-Chamisso-Preis. 2022 kuratierte sie die Poetica VI in Köln.

Zu Christine Lavant

sind im September zwei Anthologien im Wallstein Verlag erschienen.

Jenny Erpenbeck hat eine Gedichtauswahl zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen: „Seit heute, aber für immer“, 162 Seiten, 24 Euro, E-Book: 18,99 Euro.

Klaus Amann legt als Herausgeber einen Band mit Biographischem vor: „Ich bin maßlos in allem“, 456 Seiten, 34 Euro, E-Book: 26,99 Euro.

Monika Rinck: „Risiko und Idiotie – Streitschriften“, S. Fischer, 272 Seiten, 19,90 Euro.

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