
Eine lange Lyrikreise in die Nacht – die gab es jetzt zur Eröffnung der siebten Poetica in Köln. Dreieinhalb pausenlose Stunden dauerte die Veranstaltung, die von Kuratorin Uljana Wolf aufs Beste moderiert wurde. Dass der Zeitrahmen so üppig geriet, lag auch an den Grußworten, die ja immer von ganz eigenem Reiz sind. Einerseits begreift jeder, dass es für Veranstalter und Unterstützer wichtig ist, dass sie wahrgenommen werden. Andererseits wartet das Publikum ja nur darauf, dass es endlich mit dem Programm losgeht.
Das Dokument im Gedicht
Kuratorin Uljana Wolf stieg beherzt ein in das von den Vorgänger-Festivals schon bekannte, aber diesmal besonders ergiebige Speeddating mit neun Autorinnen und Autoren – die Russin Maria Stepanova, von der in Kürze ein neuer Gedichtband im Suhrkamp Verlag erscheint, musste wegen einer Covid-Erkrankung den Eröffnungstag in Quarantäne verbringen. Die Künstlerinnen und Künstler stehen für eine Lyrik, in der das Dokumentarische eine wesentliche Rolle spielt. Und so fragt das „Festival für Weltliteratur“ in dieser Woche in unterschiedlichen Konstellationen und an verschiedenen Orten: Wie erweitern Gedichte das Archiv des Wissens? Was erfahren wir in der Lyrik über Gewalt, Zensur und Umweltkatastrophen? Wie steht es um die Docupoetry?

Das Thema sei politisch, sagte Uljana Wolf in ihrer Eingangsrede. Nicht nur tagespolitisch. Aber das eben auch. Gewiss sei der Krieg in der Ukraine aus den Gesprächen nicht wegzudenken. Wenn Gedichte „unmissverständliche Gegenrede“ seien, so bestehe doch kein Zweifel an der „unmissverständlichen Fürrede für die Ukraine“: „Wir solidarisieren uns mit ihr und mit dem Recht auf Widerstand gegen einen imperialen Aggressor.“
Cecilia Vicunas Gesang für die Ukraine
Cecilia Vicuna, die soeben in Venedig für ihr Lebenswerk mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden ist, begann ihren Auftritt mit einem gesummten Klagelied. Ihre Gedanken seien beim Krieg in der Ukraine, sagte die Chilenin. Sie bete für den Frieden – „Frieden für die Menschen in der Ukraine und für uns alle.“ Die Künstlerin befasst sich in ihrem Werk mit der Geschichte „der kleinen dunkelhäutigen Menschen“, zu denen sie sich selbst zählt. Als Exempel las sie die traurige Geschichte des Bauarbeiters Luis Gomez, der infolge eines Arbeitsunfalls in einem Bauloch verschüttet wurde.
Der Blick auf die Menschen, die nicht im Rampenlicht stehen, verbindet Cecilia Vicuna mit der aus Weißrussland stammenden und seit zwei Jahren in Berlin lebenden Swetlana Alexijewitsch. Sie sei eine „Historikerin der Spurlosen“, sagte die Nobelpreisträgerin mit den Worten der Übersetzerin Katharina Narbutovic. Es gelte, den einzelnen Menschen „abzurufen“.
Swetlana Alexijewitschs Manuskript über die Liebe
Selbstverständlich wurde Swetlana Alexijewitsch auch zum Angriff Putins auf die Ukraine befragt. Der „homo sovieticus“, sagte sie, werde offenbar und leider „nicht so schnell verschwinden“, wie sie es in ihrem Buch „Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ vermutet habe. Sie habe in Weißrussland ein Manuskript über die Liebe zurückgelassen und in Berlin mit der Arbeit an einem Text über die Revolution in Weißrussland begonnen. Nun werde es wohl darauf hinauslaufen, dass sie noch weiterschreiben müsse, um auch auf den Ukraine-Krieg einzugehen.

Der Klang ist für jedes Gedicht von hoher Bedeutung. Dies wird auf der Poetica mit Nachdruck ausgestellt. Eindrucksvoll „klingende Archive“ lieferten Yan Jun und Ain Bailey. Für den Chinesen, der aufgezeichnete Kalendereinträge mit dunklen Lautmalereien begleitete, sind alle Gedichte politisch. Und die Britin sammelt für eine Soundcollage wie „Furtive furtive suspicious“ (Lauernd lauernd verdächtig) autobiographische Facetten. Mit den Künstlern der Poetica veranstaltet sie in dieser Woche einen Workshop, für den alle um ein persönliches Klangdokument gebeten wurden.
Wunden von Äthiopien bis Chile
Wunderbar klang das Amharisch der Äthiopierin Mihret Kebede, bei deren Vortrag man begriff oder auch nur zu begreifen meinte, ohne ein Wort zu verstehen. Der Abgleich zwischen Empfindung und Wortlaut war dann sehr schnell möglich, da das Trio Sophia Burtscher, Katharina Schmalenberg und (der auch am Klavier überzeugende) Philipp Plessmann die jeweiligen Übersetzungen vortrugen.

Mihret Kebede arbeitet aktuell an einem „Projekt der Stille“, das sich der Situation in autoritär-diktatorischen Systemen widmet. Auf diesem Themenfeld ist auch der Chilene Carlos Soto-Román unterwegs. Bei ihm geht es vielfach um Verschweigen und Verschwinden, um die Täter und Opfer der Pinochet-Diktatur. Die Wunden aus jener Zeit seien „immer noch nicht verheilt“, sagt er. Daran erinnert der Autor, indem er beispielsweise CIA-Akten in seine Dichtung integriert. Auch hat seine Lyrik eine visuelle Komponente – hier zu sehen in einem Video, in dem die Buchstaben aus den Versen fallen.
Das Utopische der Flüsse
Don Mee Choi, in Seoul geboren und in den USA lebend, erinnerte ihrerseits an die Diktatur in Korea. Das machte sie anhand der Beschreibung eines Fotos, das ihren Vater als jungen Berichterstatter der Agentur UPI beim Militärputsch von Park Chung-hee zeigt. Don Mee Choi, 2020 mit in den USA mit dem National Book Award for Poetry ausgezeichnet, befasst sich mit den Erinnerungen an die Erinnerungen ihres Vaters, der immer gesagt habe: „Ich habe keine Angst gehabt.“ Wenn sie sich den Fotos des Journalisten zuwende, die er auch in Vietnam gemacht habe, dann sei dies für sie wie eine Ausgrabung. Dabei entdecke sie das Persönliche und das Allgemeine.
Anja Utler gab einen kurzen Einblick in ihre „Quellenkunde“. Wie es denn sein könne, dass in ihren Versen so viel von Flüssen die Rede sei wollte Uljana Wolf wissen, die selbst Lyrikerin ist und jüngst mit dem Leipziger Buchpreis geehrt worden ist. Ja, das war der Knopf, der gedrückt werden musste. Anja Utler sang sogleich ein so kurzes wie überzeugendes Loblied auf das „Großartige“ und „Utopische“ der Flüsse. „Sie versprechen, dass es immer weiter geht, immer weitergehen könnte.“ Gut, dass dies auch eine Drohung sein könnte, ist klar. Der Fluss sei solcherart ein Äquivalent des menschlichen Körpers: Auch im Körper sollte es ja immer weitergehen.
„Fans in ganz Europa“
Schließlich war die Bühne frei für den Kongolesen Fiston Mwanza Mujila, der in Österreich lebt. Wenn er auftrete, verriet er im Gespräch, trete er nie allein auf – immer seien seine Verwandten mit von der Partie, die Eltern, die Geschwister, die Tanten. Imposant war der Vortrag aus seinem Gedichtband „Le fleuve dans le ventre“. Doch Fiston Mwanza Mujila stellte klar, dass das nicht alles gewesen sei: „Ich kann noch viel lauter – das waren nur 20 Prozent.“
Soweit die Kunst. Und wo bleiben Vor- und Zwischenreden? Den Auftakt machte Kölns Uni-Rektor Axel Freimuth als Gastgeber. Er meinte bemerkt zu haben, dass es „Poetica-Fans in ganz Europa“ gebe. NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen adelte daraufhin die Literatur als eine „besonders nachhaltige Kunst“ und zählte die Poetica zu den „herausragenden Literaturveranstaltungen“. Schließlich versicherte Andrea Firmenich von der Kunststiftung NRW, dass ihr Haus „die Literatur- und Literaturlandschaft in Nordrhein-Westfalen weiter internationalisieren“ wolle. Außerdem hat die Generalsekretärin beobachtet, dass die Poetica „eine Lyrikveranstaltung mit weltweiter Wirkung“ sei.
„Poetry can create a better life“
Das mag ein wenig sehr hoch gegriffen sein. Aber dass dieses Festival, das von der Universität zu Köln in Zusammenarbeit mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung realisiert wird, Substanz und Ausdauer hat, steht außer Frage. Begründet wurde es einst von Günter Blamberger am Kolleg Morphomata der Universität. Zwar ist das Kolleg mittlerweile und planmäßig abgeschlossen worden. Doch die Poetica geht weiter – und weiterhin mit Günter Blamberger als Gesamtleiter.
Während Ernst Osterkamp von der Darmstädter Akademie sein launiges Grußwort für eine Erinnerung an Goethe als Archivar nutzte, beleuchtete Günter Blamberger die Docupoetry. Es gebe eben in der Lyrik nicht nur den Ich-Ausdruck, sondern auch die dokumentarische Poesie. Diese erfordere die Aktivität der Lesenden: Man müsse ausgraben, um sich zu erinnern. Die Erinnerung, die zutage gefördert werde, weise vorwärts.
„Poetry can create a better life“ war das Zitat, mit dem Günter Blamberger seine Ansprache beendete. Er vergaß allerdings nicht den Hinweis, dass es in kriegerischen Zeiten zuweilen schwerfalle, daran zu glauben.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
finden sich Beiträge zu vorangegangenen Ausgaben des Festivals. Und zwar zur sechsten Poetica – u. a. mit Jan Wagner, Herta Müller und Serhij Zhadan – genau HIER. Und zur fünften Poetica – u.a. mit Aris Fioretos, Marion Poschmann und Christian Kracht – genau HIER.
Die Poetica 7 läuft bis Samstag. Das Programm findet sich unter http://www.poetica.uni-koeln.de