
Thomas Bernhard hat das Bild, das sich die Nachkriegswelt von der Schriftstellerin Christine Lavant (1915 – 1973) machte, vom Kopf auf die Füße gestellt. „Die Lavant“ sei keine Vergeistigte gewesen, wie oft behauptet wurde, sondern eine Gescheite und Durchtriebene. „Sie wohnte auf der Betondecke eines Supermarktes an einer Straßenkreuzung in Wolfsberg mit einer Riesentankstelle und tippte ihre Gedichte gleich in die Maschine. Das ist für mich großartiger, als das verlogene Weltfremdmärchen mit katholischer Talschlussromantik, das gottbefohlene, das um sie bis heute immer verbreitet worden ist.“
Christine Lavant ist selbst unter Literaturfreunden nicht allzu bekannt. Und ihre Dichtung ist es noch viel weniger. Nun gibt es eine hervorragende Gelegenheit, ihr umfangreiches Werk und ihren widrigen Lebenslauf kennenzulernen. Die „Werke in vier Bänden“, veröffentlicht in Einzelausgaben in den Jahren 2014 bis 2018, liegen nun erstmals geschlossen in einer Kassette vor. Der Umfang der veröffentlichten Texte ist durch diese Ausgabe um einen Schlag verdoppelt worden – und der Nachlass ist immer noch nicht zur Gänze ausgeschöpft.
Schmerz und Salbe
Wie überlebenswichtig für Christine Lavant die Dichtung war, hat sie 1946 bekannt: „Das Schreiben ist halt das Einzige, was ich habe. Es ist meine schmerzhafte Stelle u. zugleich die heilende Salbe.“ Fünf Jahre später heißt es in einem Brief lakonisch: „Ja, ich war n o c h desperater, noch weit weit desperater, so dass mir nur der Ausweg blieb zwischen einem Strick und einer Handvoll ziemlich wüster Gedichte. Ich wählte vorläufig den letzteren.“
Liest man ihre Vita, dann kann es einen schütteln. Neuntes Kind eines Bergmanns und einer Flickschusterin, Armut, Bildungsferne, Lungentuberkulose, starke Röntgenbestrahlung mit lebenslang schmerzenden Nebenwirkungen, Depressionen, Selbstmordversuche, Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt, Heirat mit einem 36 Jahre älteren mittellosen Landschaftsmaler, die Stickerei als Broterwerb, Liebeskummer, Zusammenbrüche – da kam einiges zusammen, was nach einem Ventil verlangte. Aber Christine Lavant ist hin- und hergerissen zwischen Offenlegen und Verbergen, zwischen Zweifel und Selbstbewusstsein.
Rilke statt Stricken
Rainer Maria Rilke verschaffte ihr das lyrische Erweckungserlebnis. Eine Bibliothekarin (oder nach anderer Lesart: ein Arzt) hatte ihr die Buch-Empfehlung gegeben: „Ich wusste von Rilke gar nichts und Gedichte mochte ich überhaupt nicht lesen, weil man dabei nicht stricken kann.“ Die „Strickbücher“ – ein von ihr kreiertes Genre – waren solche, die sich leicht bei der Handarbeit konsumieren ließen. Aber gelesen hat sie Rilke dann doch. In einem sehr kurzen Lebenslauf schreibt sie 1951 im Alter von 36 Jahren: „Der hat mein Leben geändert.“
Die literarische Karriere begann allerdings mit Erzählungen. Sie handelten von Bigotterie, Machtverhältnissen, Streit, Armut und Grobheit. Der autobiographische Aspekt war gerade in den frühen Texten „Das Kind“ (1948) und „Das Krüglein“ (1949) unübersehbar. Dass sie damit in ihrer dörflichen Umgebung Anstoß erregen könnte, war ihr bewusst. Sie galt eh schon als Außenseiterin im Lavanttal, das benannt ist nach dem dortigen Fluss. Deshalb hatte sich die geborene Thonhauser und verheiratete Habernig für das heimatverbundene Pseudonym Lavant entschieden. Zudem vertraute sie sich zunächst einem kleinen Verlag in Deutschland an: Brentano in Stuttgart. Doch die Hoffnung trog, dass ihre Literatur den Weg nach Kärnten nicht finden würde. Und spätestens 1950 war das Pseudonym enttarnt. „Bekannte Bauersleute“, schrieb sie im selben Jahr, hätten eine „Riesenwut“ auf sie.
Zuflucht in der Lyrik
Um sich vor Anfeindungen zu schützen, wandte sie sich mehr und mehr der Lyrik zu. Dort fiele es ihr leichter, meinte sie, sich hinter den Worten zu ducken. Gleichwohl – wer lesen kann, der kann auch deuten. In einem Brief an ihre Förderin Paula Purtscher hält sie fest: „Wenn ich Ihnen von Zeit zu Zeit die Gedichte schicken darf, sagen dieselben sowieso alles, was zu sagen ist u. dass kaum jemand noch so gut sich darauf versteht zwischen den Zeilen zu lesen als Sie, weiß ich.“
Vor allem die Gedichtbände „Die Bettlerschale“ (1956) und „Spindel im Mond“ (1959) fanden viel Zuspruch. Der Literaturwissenschaftler Fabjan Hafner (1966 – 2016) schreibt in einem der Nachworte, dass die makellose Form und das Ineinandergreifen von Modernität und Tradition effektvoll gewesen seien. Auch verweist er darauf, dass zu Lavants Lebzeiten vor allem eine christlich-religiöse Lesart vorherrschte. Dabei sei das Religiöse „viel mehr Register und Requisitenfundus als Thema“ gewesen. Erst in jüngerer Zeit werde mit Thomas Kling, der den „immensen Bilderreichtum“ lobte, „die sinnlich-erotische Lesart als grundlegend“ wahrgenommen. In der neuen Kling-Werkausgabe bei Suhrkamp findet sich zudem dieses Lob der Lavant’schen Dichtung: „Gute Gedichte sind immer Produkte des kontrollierten Außersichseins, nicht von innerlicher Schlafwandelei.“
Die Welt ist eine Weidenwiege
Wer sich auf dieses Werk einlässt, stößt beileibe nicht nur auf Leidensgeschichten. Geradezu frohgemut klingt es im Gedichtband „Der Pfauenschrei“ von 1962: „Seit heute, aber für immer, / weiß ich: Die Erde ist wirklich warm-; / ich gebe der Nessel den Brand zurück / und dem Igel die Stacheln. // Seit heute ist alles mein Schutzpatron / und die ganze Welt eine Weidenwiege, / darin uns der Windstoß zusammenschaukelt / und unsren Atem verknotet.“
Mit ihren Texten trat Christine Lavant nur selten im Literaturbetrieb auf – aber dann war ihr die Aufmerksamkeit gewiss. Sie fiel auf mit Kopftuch, Witz und Schlagfertigkeit. Herausgeber Klaus Amann merkt zurecht an, dass die Begleittexte und Anmerkungen der Werkausgabe insgesamt ein Mosaik ergeben, „das bis auf Weiteres die Stelle einer Biografie der Dichterin vertreten kann.“ Dichtung und Wahrheit finden in dieser Kassette zueinander. Eine faszinierende Leseausgabe.
Martin Oehlen
Christine Lavant: Werke in vier Bänden, Kassette, hrsg. von Klaus Amann und Doris Moser, Wallstein Verlag, knapp 3000 Seiten, 99 Euro.
