
Alles Eis – so sah es Plinius der Ältere. Der Bergkristall, schreibt der Gelehrte aus dem 1. Jahrhundert im Buch 37 seiner Naturkunde, sei dort zu finden, „wo die winterlichen Schneemassen am meisten starren, und es ist sicher, dass er aus Eis besteht.“ Diese außerordentliche Beschaffenheit macht ihn zu einer Rarität: „Von den Gegenständen, die an der Oberfläche der Erde liegen, werden Kristalle am höchsten geschätzt.“ Der Kristall sei zehnmal wertvoller als Gold. Dieser Einschätzung folgte das Mittelalter – von Isidor von Sevilla (um 560 – 636) über Hildegard von Bingen (1098 – 1179) bis zu Albertus Magnus (um 1200 – 1280). Der Bergkristall war eine Verlockung für Klerus und Kaiser, für Gelehrte und Wahrsager. Sogar als Rassel mit Schnuller und Beißhilfe für zahnende Kleinkinder fand er Verwendung.
„Ein neues Kapitel“
Die sagenhafte Karriere des Minerals, das auf Griechisch „krystallos“ heißt und auf das Wort „kryos“ für „Eis“ zurückzuführen ist, zeichnet nun die Ausstellung „Magie Bergkristall“ im Museum Schnütgen in Köln nach. Im Grunde handelt es sich um eine Jubiläumsschau. Denn erstmals hat sich das Museum vor 50 Jahren intensiv auf den Bergkristall eingelassen, damals unter Leitung des Direktors Anton Legner in der Ausstellung „Rhein und Maas – Kunst und Kultur 800 bis 1400“. In der Folgezeit war das Mineral immer wieder ein Thema in Köln. Nun knüpfe das Museum Schnütgen, sagt sein Direktor Moritz Woelk, an diese Tradition an und schlage zugleich „ein neues Kapitel“ auf.
Das wird nicht zuletzt bestimmt durch einen sensationellen Fund im Jahre 2005. Damals wurde beim Ausbau der Kölner U-Bahn am Kurt-Hackenberg-Platz eine Bergkristallschleiferei aus dem 12. Jahrhundert entdeckt und in einer Notgrabung gesichert. Es ist der bislang einzige archäologische Nachweis einer solchen Werkstatt aus dem Hohen Mittelalter. Die Funde in unmittelbarer Nähe des Domes illustrieren jetzt die Arbeitsgänge: Kleine Eisenhämmer zum Zuschlagen des Kristalls, Sandstein mit unterschiedlich grober Körnung für den Grob- und Feinschliff sowie eine schmale Bleitafel zum Polieren.
„Aus dem tiefen Inneren des Berges“
Auf den Blick in die Werkstatt folgt ein Parcours der Prächtigkeiten von der Antike bis zum ausgehenden Mittelalter. Die 20 Stationen mit rund 130 Exponaten aus vielen Sammlungen bieten eine solche Fülle an Hochkarätern, dass man aus dem Staunen so schnell nicht herauskommt. Immer wieder Bergkristall, aber eben auch jede Menge Gold und Emaille und was sonst noch glänzt und glitzert. Moritz Woelk merkt an, dass er vor manchen dieser Objekte einen ganzen Tag verbringen könnte. Und wenn das womöglich leicht übertrieben klingen mag, da sich der Kunsthistoriker schon eine Weile mit den Werken beschäftigt hat, so ist doch damit die Güte der Exponate vollkommen zutreffend beschrieben.
Manuela Beer hat die begeisternde Ausstellung kuratiert. Die stellvertretende Direktorin des Museums Schnütgen weiß, was Plinius über das Mineral aus der Familie der Quarze noch nicht wissen konnte: „Bergkristall kommt aus dem tiefen Inneren des Berges, wo er im Verborgenen unter Einwirkung von Hitze und Druck langsam, manchmal über Jahrtausende, in unzugänglichen, verborgenen Klüften aus Kieselsäure entsteht.“ Sie schreibt dies im alle einschlägigen Themenfelder abschreitenden Begleitbuch, dessen Fotografien auch noch den feinsten Schliff zu zeigen vermögen. Weil ein solches Kompendium von internationalem Interesse ist, wird es zudem in einer englischsprachigen Version angeboten.

Kreuznagelreliquiar ohne Kreuznagel
Das Mineral empfahl sich mit seiner Strahlkraft und Transparenz für liturgische Objekte aller Art. Dazu zählen auch die Schreine der Heiligen Maurinus und Albinus aus St. Pantaleon, deren jeweilige Firstkämme mit Bergkristallkugeln geschmückt sind. Dieser Dachschmuck gilt sogar als eine Kölner Spezialität. Alleine schon die Chance, die Schreine aus nächster Nähe betrachten zu können, lohnt den Weg in die Ausstellung.
Aber da ist eben noch so sehr viel mehr. Allenthalben funkeln die „Cabochons“ mit flacher Unterseite und gewölbter Oberseite. Auch sie gelten als kölnisches Markenzeichen. Moritz Woelk vergleicht sie mit hervorquellenden Augen aus Bergkristall, die auf Kreuze, Buchdeckel und Monstranzen appliziert werden. Herausragend auch das Kreuznagelreliquiar aus Essen (allerdings ausgeliehen ohne Nagel); die überaus seltenen Hedwig-Gläser, von denen es weltweit nur 13 gibt; die glasklar ihre Mäuler aufreißenden Löwen aus dem Pariser Musée de Cluny (das im nächsten Jahr ebenfalls eine Bergkristall-Ausstellung zeigen wird); das Tatzenkreuz aus dem Venedig des 14. Jahrhunderts, das mit einer Miniaturmalerei auf Pergament besticht; der Henkelkrug aus Wien, der mit außergewöhnlicher Reinheit und perfektem Schliff imponiert; schließlich ein „magischer Gürtel“ aus dem iberischen Raum des 17. Jahrhunderts mit Bleikristall-Totenkopf, der die jüngste Neuerwerbung des Hauses ist.



Islamischer Löwe wird zum Lamm Gottes
Und dann die vielen Reliquiare. Oft sind sie einem Kreuz integriert. Doch zuweilen gleichen sie Tieren und Bauwerken, einem Fisch oder einem Löwen, einem Schrein oder einem Baldachin. Im Zentrum des Kreuzes, des Körpers oder der Mikroarchitektur prangt dann jeweils der Bergkristall. Mal gibt er die Sicht frei auf die Reliquie, vergrößert diese gar, und mal täuscht er den Durchblick nur an. Eine Kombination dieser Sichtweisen bietet das Reliquiar der heiligen Barbara aus dem Köln um 1300. Da wirken die Reliquien, wie es in der Beschriftung heißt, zugleich sichtbar und entrückt. Gerade so, denken wir uns, als sollte die fromme Botschaft lauten: Man sieht vieles und doch nicht alles.
Zu jedem der ausgestellten Objekte ließe sich eine kleine Kunstgeschichte erzählen. Das gilt A) für die Kunstfertigkeit, B) für die komplexen Interpretationsmöglichkeiten und C) für die jeweilige Historie. Beispiele, bitte? A) Einem Kristall aus Rouen ist eine unglaublich feine Darstellung der Taufe Christi eingraviert; diese sogenannte Intaglio-Arbeit wurde mutmaßlich mit einem Diamantsplitter ausgeführt. B) Weil der Bergkristall wegen seiner bläulichen Färbung und durchsichtigen Anmutung, aber eben auch aufgrund der Eiskern-Deutung des Plinius mit Wasser in Verbindung gebracht wird, ist der Kiel eines ansonsten goldenen Trinkgefäßes in Form eines Kriegsschiffes aus dem Mineral geschliffen. C) Das Kokosnussreliquiar aus Münster ist ein sprechendes Exemplum dafür, wie das Mittelalter zuweilen der Kunst den Kopf verdreht hat. So wurde einer Löwenfigur aus dem islamischen Abbasiden-Reich des 9. Jahrhunderts das Haupt abgeschnitten. Sodann wurde es um 1220/1230 im Westfälischen „verkehrt“ herum fixiert und mit einer Siegesfahne versehen, damit die Gestalt wie das christliche Lamm Gottes aussehe. Da liegt es nun auf der Kokosnuss-Weltkugel und blickt zurück in eine ferne Zeit.
Blick in die Kristallkugel
Von vielen weiteren Aspekten ist die Rede. Von den magischen Kräften, die dem Bergkristall nachgesagt werden, weiter von den lupenstarken Linsen der Wikinger, von der Prachtentfaltung am Hofe, von Bildern und Büchern und nicht zuletzt vom Aberglauben. Der angenehm luftig arrangierte Rundgang endet mit einer rotierenden Kristallkugel. Sie verweist auf die Wahrsagerei, die sogenannte Kristallomantie, die im Mittelalter an Boden gewann. Manche gingen damals davon aus, dass sich Engel in den Kristallen aufhielten.
Aber auch ohne einen Blick in eine solche Kugel zu werfen, können wir prognostizieren: Die Ausstellung „Magie Bergkristall“ wird niemanden unbeeindruckt lassen.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir Anton Legners Band „Faszination Bergkristall“ aus dem Greven Verlag HIER vorgestellt.
Die Ausstellung
„Magie Bergkristall“ ist im Museum Schnütgen in Köln am Josef-Haubrich-Hof zu sehen (unweit des Neumarkts). Geöffnet: Di-So 10-18 (Donnerstag bis 20 Uhr), bis 19. 3. 2023. Eintritt 10 Euro, erm. 7 Euro.
Bildhinweis
Am Kopf des Beitrags ist ein Ausschnitt aus dem Scheibenkreuz (um 1140) aus dem Hildesheimer Dommuseum zu sehen. Foto: Bücheratlas
Das Begleitbuch
„Magie Bergkristall“, hrsg. von Manuela Beer, Hirmer Verlag, 448 Seiten, 44 Euro im Museum und 55 Euro im Buchhandel.

vielen dank für den interessanten hinweis auf diese bestimmt höchst sehenswerte ausstellung!
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So sorry, so peinlich – ich habe den Kommentar erst jetzt registriert! Vielen Dank dafür! Und: Ja, die die Ausstellung ist eine kleine Sensation.
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