Der Schriftsteller, der ursprünglich ein Einhorn werden wollte: Dincer Gücyeters Premierenlesung von „Unser Deutschlandmärchen“ im Kölner Literaturhaus

Dincer Gücyeter bei der ersten Lesung aus seinem Debütroman Screenshot: Bücheratlas

Wann hat es das bei einem Roman schon einmal gegeben? Da sitzt eine Hauptperson bei der Premierenlesung tatsächlich in der ersten Reihe! Fatma Gücyeter aus Nettetal-Lobberich – Mutter des Lyrikers, Verlegers und nun auch Romanciers Dincer Gücyeter – ist Heldin des Romans „Unser Deutschlandmärchen“ (den wir auf diesem Blog HIER vorgestellt haben). Eine Heldin im doppelten Sinne – was ihre Rolle im Buch und was ihren Beitrag zum Überleben der Familie angeht. Nun hatte sie den Kurztrip vom Niederrhein ins Kölner Literaturhaus auf sich genommen, um dem Sohn zu lauschen, der da von ihrer Reise aus der Türkei nach Deutschland erzählte, aber auch von seinem ganz persönlichen Erwachen, von seinem Weg in die Literatur.

Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman

Dincer Gücyeter, der für seine Lyrik in diesem Jahr mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde, stellte seinen Debütroman im Gespräch mit Ulrich Noller vor. Wobei: „Roman“ steht zwar auf dem Cover des mikrotext-Verlags. Doch der Autor selbst räumt ein, nicht so recht zu wissen, was ein Roman sei. Und er habe auch noch niemanden getroffen, der ihm eine letztgültige Definition hätte geben können. Er habe es daher so gehalten: „Ich habe das geschrieben, was ich wollte.“ So finden sich in dem Band Theaterszenen, Märchen, Gedichte und Anekdoten. Er plädiere dafür, sagte er, nicht an vorgegebenen Formen zu kleben.

Am Anfang des Romans stand die Idee, dass Dincer Gücyeter seine viel beachteten Postings in den Sozialen Medien zu einem Buch zusammenfasse. Dabei handelt es sich um gute und sehr gute Prosaminiaturen aus dem Alltag des Büchermenschen und dem Innenraum der Seele. Doch zu wiederholen, was schon öffentlich ist, hätte ihn wohl gelangweilt. Daher hat er sich an diesen Roman von dincergücyeterischer Prägung gemacht.

Als Eunuch im Harem

Wie er zur Literatur gekommen ist, steht in „Unser Deutschlandmärchen“ geschrieben. Vor dem Premierenpublikum hat er den Weg noch einmal in wenigen Sätzen skizziert. Da waren die Erzählungen der „begnadeten“ Großmutter; dann jene der Frauen im Hof, in deren Kreis sich der „pummelige Dincer“ wie ein kleiner Eunuch im Harem vorkam; mit 13 Jahren fiel der Blick folgenschwer in einen Rilke-Lyrikband; hinzukamen die Gespräche in der Kneipe seines Vaters, die er belauschte; schließlich seine Wahrnehmung von Frauen mit rosafarbener Unterwäsche (in der Familie trug man Weiß). Das ist der Stoff, aus dem ein Dichter werden kann.

Bevor Dincer Gücyeter allerdings beschloss, sich auf die Lyrik einzulassen, hatte er noch ein paar andere Projekte in petto. Die Bauchtänzerinnen im Sylvester-Programm des türkischen Fernsehens brachten ihn auf den Gedanken, selbst eine Karriere als Bauchtänzer zu wagen. Denn darum ging es dem Knaben doch erst einmal: „Ich wollte Aufmerksamkeit.“ Wer das versteht, wird sich auch nicht wundern, dass er zudem ein Leben als Einhorn in Erwägung zog. In dem Zusammenhang zitiert er ein Bonmot von Lady Gaga: Ich war immer schon berühmt, aber das wusste keiner.

„Ich bin für alles dankbar“

Bei einigen Passagen des Buches habe er heftig geweint, sagt er. Dies auszusprechen, sei ihm peinlich, nicht wegen des Weinens, sondern weil es komisch klinge, wenn ein Autor dies zum Besten gebe. Aber nicht so bei Dincer Gücyeter. Ihm glaubt man es nicht nur, sondern das auch noch gerne. Weiter bekannte er, kein großes Interesse am Schleifen oder Nacharbeiten eines Textes zu haben. Und dass Lesen für ihn spannender als Schreiben sei, weil er meistens wisse, was er zu Papier bringen werde. Schließlich eine Neuigkeit: „Es wird wahrscheinlich eine Fortsetzung dieses Buches geben“ – kleine Kunstpause – „müssen.“

Es war eine emotionale und erhellende Premierenlesung. Was nicht wundert, wenn es um die eigene Haut geht, um die Mutter in der ersten Reihe und den Vater, der an Krebs gestorben ist, um frühe Verzweiflung und unerwartete Unterstützung. Dincer Gücyeter fasst mal kurz zusammen: „So ist es passiert – und ich bin für alles dankbar.“

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir Dincer Gücyeters „Deutschlandmärchen“ HIER besprochen: „Hoffnung, Heimweh, Heilerde“.

Weitere Lesungen

gibt es in Bonn (25. 11, Altes Parlamentsgebäude), Berlin (1. 12., Ocelot), Düsseldorf (13. 12., Stadtbibliothek), Göttingen (14. 12., Literaturhaus) und Osnabrück (15. 12., Lagerhalle).

Der Gedichtband

„Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ von Dincer Gücyeter ist 2021 im Elif-Verlag erschienen und kostet 20 Euro.

Dincer Gücyeter: „Unser Deutschlandmärchen“, mikrotext Verlag, 216 Seiten, 25 Euro.

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