
Der Bergkristall hat die Menschen seit jeher fasziniert und ihre Fantasien beflügelt.“ schreibt Anton Legner. Sehe man einmal vom Gold ab, so gebe es kaum eine Materie, die im Laufe der Zeiten solche Aufmerksamkeit erfahren habe – „ob in der Antike oder im Mittelalter, im Christentum oder in anderen Weltkulturen.“ Es ist ein „Wunder der Natur“, das in den Klüften der Bergwelt in hunderttausenden von Jahren heranwächst und von „Strahlern“ aufgespürt wird.
Transparenz für Splitter vom Kreuz
Anton Legner, von 1970 bis 1990 Direktor des Museum Schnütgen in Köln, legt nun im Alter von 93 Jahren eine Kulturgeschichte dieser Quarzvarietät vor: „Faszination Bergkristall“. Neben allem Grundsätzlichen gibt es zahlreiche Illustrationen, autobiographische Erinnerungen zwischen Moldau und Rhein sowie einen besonders scharfen Blick auf Kölner Schätze in Museen und Kirchen. Auch wird der bislang einzige archäologische Nachweis einer Bergkristall-Werkstatt aus dem Hohen Mittelalter gewürdigt: Sie wurde im Jahre 2005 beim Bau der Kölner U-Bahn am Kurt-Hackenberg-Platz entdeckt.
Die Verlockung des lichtdurchlässigen Gesteins, das die Griechen „krystallos“ nannten, basiert auf seiner Strahlkraft und Transparenz. Ein himmlisches Licht wurde ihm schon früh attestiert, so dass es liturgische Objekte aller Art schmückte, seien es Schreine, Kelche oder Buchdeckel. Vor allem aber war der Bergkristall ein ideales Behältnis für alle möglichen Reliquien. An denen herrschte im Mittelalter weiß Gott kein Mangel. So wurden auch die nach Europa gelangten Holzsplitter vom Kreuz Christi, wie Anton Legner schreibt, „oft in das durchsichtige Kleid des Bergkristalls gehüllt, zum sichtbaren Zeugnis und zur Verehrung des Zeichens der Erlösung.“
Bei Stifter ist er „blau, so blau“
Goldschmiede verwandelten das wahrhaft edle Gestein darüber hinaus in weltliche Kostbarkeiten. Sie schufen mit Hilfe des Bergkristalls fürstliche Pokale für die adelige und sogenanntes Ratssilber für die städtische Repräsentation.
Wer erst einmal auf der richtigen Spur ist, wird vielfach fündig. In der Literatur hat Adalbert Stifter den Bergkristall in einer frommen Geschichte verewigt, deren erste Fassung 1845 erschienen ist. Sie handelt von zwei Kindern, die sich an Heiligabend im Gebirge verirren und in einer Höhle Schutz suchen – darin „war es blau, so blau, wie gar nichts in der Welt ist, viel tiefer und viel schöner blau als das Firmament, gleichsam wie himmelblau gefärbtes Glas, durch welches lichter Schein hineinsinkt.“
Im Medizinschrank der Hildegard von Bingen
Auch in der Medizin war der Bergkristall eine Zeitlang gefragt. Hildegard von Bingen ging im 12. Jahrhundert noch davon aus, dass es sich bei dem Kristall um vielfach gefrorenes Wasser handele. Sie empfahl bei Sehschwäche, Schilddrüsenbeschwerden, Herz- und Magenschmerzen sowie nässenden Ekzemen: „Erwärme den Kristall an der Sonne.“ Anschließend sollte der Patient den Stein entweder auf die leidige Körperstelle legen oder Wasser beziehungsweise Wein über ihn gießen – und sodann die Flüssigkeit trinken. Noch im 14. Jahrhundert setzten Professoren der medizinischen Fakultät in Paris auf die Heilkraft: Sie empfahlen den Bergkristall in einem Gutachten als Mittel gegen die Pest.
Nicht zuletzt war und ist der Bergkristall, wie wir in diesem schmucken Band auch noch lesen, im Aberglauben populär. Doch leider hat der Blick in die Kristallkugel noch nie eine verlässliche Prognose liefern können. Ist halt doch nur Hokuspokus. Aber da kann ja der Bergkristall nichts für.
Martin Oehlen
Eine Ausstellung zum Thema ist für den November 2022 im Museum Schnütgen in Köln geplant. „Magie Bergkristall“ wird eine Kooperation mit dem Musée de Cluny in Paris sein.
Anton Legner: „Faszination Bergkristall“, Greven Verlag, 280 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 34 Euro.
