
Das ist doch mal ein Superlativ: „Der schärfste Einschnitt in der Geschichte Kölns fand im 5. Jahrhundert statt.“ Karl Ubl formuliert diese Erkenntnis in dem Band „Köln im Frühmittelalter – Die Entstehung einer heiligen Stadt“. Mit dieser Veröffentlichung wird eine weitere Lücke in der monumentalen „Geschichte der Stadt Köln“ geschlossen, die Werner Eck im Auftrag der Historischen Gesellschaft Köln herausgibt. Das Großwerk, das 2004 begonnen wurde, ist auf insgesamt 13 Bände angelegt – und nun fehlen nur noch jene zur Weimarer Zeit und zur Stadt nach 1945. Diese sollen bis 2025 vorliegen.
Aus den „Agrippinenses“ werden die „Kolnaer“
Besonders scharf war der Einschnitt, weil mit dem Untergang des römischen Reichs auch die Herrschaft über die Stadt wechselte. In einem früh einsetzenden, wenngleich schleichenden Übergang vereinnahmten die Franken die Colonia Claudia Ara Agrippinensium und erhoben sie zur königlichen Residenzstadt. Als Zeichen der Zeitenwende wurde aus der „Agrippina“, wie die Stadt verkürzend genannt wurde, die „Colonia“. Und die „Agrippinenses“ hießen fortan „Colonienses“. Erstmals nachweisbar ist die Umbenennung auf den Goldmünzen von Frankenkönig Theudebert I. aus dem 6. Jahrhundert.
Mit dem Einzug der Franken wechselte auch die Sprache. „Köln wird deutsch“, wie es Karl Ubl am Montag bei der Vorstellung des Buches sagte. Das dominante Latein wich im 6. und 7. Jahrhundert der Volkssprache – also einer Art Altkölsch (nein, hier wird auf keine rheinische Bierverbrüderung angespielt). Das einschlägige Kapitel ist mit „‘Kölsche Sprooch‘ vor 1200 Jahren“ überschrieben. Im Annolied, das vermutlich ein Siegburger Mönch im 11. Jahrhundert verfasst hat, werden die Einwohner der Stadt schließlich als „Kolnaer“ bezeichnet.
Archäologie hat „Unglaubliches“ geleistet
Die Quellenlage ist gerade für den Beginn des kölnischen Frühmittelalters bescheiden. Aus der Zeit vor Bischof Hildebald, also bis um 800, ist nach Karl Ubls Angaben „kein einziger Text aus Köln im Original erhalten“. Allerdings betont der österreichische Historiker, der seit 2011 an der Kölner Universität lehrt, dass Archäologen und Archäologinnen in den vergangenen Jahrzehnten „Unglaubliches bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Kölner Frühmittelalters geleistet haben.“ Diese Forschung habe zu grundlegend neuen Erkenntnissen geführt. Sie habe geklärt, dass Köln nie ganz verlassen gewesen sei. Auch wurde offensichtlich, dass sich das Stadtzentrum früher als bislang angenommen zum heutigen Alter Markt und Heumarkt verschoben hat.
Rund 700 Jahre umfasst der Zeitraum, der hier behandelt wird – er ist so groß wie kein anderer in dieser Reihe zur Geschichte der Stadt Köln. Am Anfang, also um das Jahr 400, war das mächtigste Bauwerk der Stadt das Prätorium, der Palast des Provinzstatthalters, dessen Grundmauern noch heute zu besichtigen sind. Am Ende der Epoche, also um 1100, macht dann der (Alte) Dom den größten Eindruck. Das fast 100 Meter lange Gotteshaus überragte eine Stadt, die sich auf wundersame Weise zu einer „heiligen“ Stadt entwickelte, zur „sancta Colonia“ und zum „hilligen Köln“.

„Goldene Heerscharen der Jungfrauen“
Keine andere Stadt im Frankenreich bezeichnete sich als heilig, was auf ein schon damals sehr ausgeprägtes Selbstbewusstsein der Kölnerinnen und Kölner schließen lässt. Selbst auf Münzen wurde das neue Markenzeichen fixiert: „Sancta Colonia Agrippina“. Plötzlich zählte die Stadt neben Santiago de Compostela, Canterbury und Rom „zu den vier großen Heiligtümern der abendländischen Christenheit.“ Und das lange vor dem Einzug der Gebeine der Heiligen Drei Könige.
Vorneweg waren es der Heilige Gereon mit seiner Thebäischen Legion und die Heilige Ursula mit ihren 11.000 Jungfrauen, deren farbig ausgedachte Legenden für Furore und Verehrung sorgten. Stephan von St. Pantaleon schreibt Ende des 10. Jahrhunderts: „Und welche Stadt gibt es unter unserer Sonne, die reichlicher an Heiligen ist als diese unsrige? Wo ist der Schutz der Apostel so gegenwärtig? Wo gibt es an wenigen Lagerstätten so viele Tausende Märtyrer und so viele goldene Heerscharen der Jungfrauen? Wo sind so viele Bekenner und Bischöfe gegenwärtig, die dieses Gottesvolk hervorgebracht haben?“ Dieser himmlische Beistand war gewiss willkommen. „Für die Menschen des Mittelalters“, so sagte es Karl Ubl jetzt bei der Buch-Präsentation, „war die Hölle so real wie für uns das Internet.“
Vom Heiligenkult zum Fußballkult
Der Historiker ist auch in seiner Untersuchung erfolgreich um Anschaulichkeit bemüht. Er lässt Hinweise auf Asterix und Bläck Föös einfließen. Und er vergleicht den Kult um die Heiligen mit dem Fan-Verhalten rund um den Fußball: „Sie boten Gesprächsstoff im Alltag, sie gaben mit ihren Kalendern dem Jahr eine Ordnung, und sie schufen Gemeinschaft durch Rituale und Prozessionen.“
Karl Ubl steuert viele spannende Ziele an. Er erkennt, dass Köln von den vielfach registrierten Verheerungen der Völkerwanderung verschont geblieben ist, dass die Stadt trotz der Randlage im Frankenreich florierte und dass sie sich nicht mehr nur nach Westen orientierte, sondern zunehmende auch nach Osten. Er würdigt Erzbischof Hildebald, der im Zuge der karolingischen Bildungsreform die Dombibliothek begründet hat, und er relativiert die Bedeutung von Erzbischof Brun, der den kommunalen Aufschwung nicht ausgelöst, sondern fortgeführt habe („Brunmythos“). Vom mutmaßlich „gewaltigen“ Weinkonsum ist die Rede, vom „Rotlichtmilieu“ und vom Kleeblattchor als einer architektonischen Finesse. Wenige Quellen gibt es für das jüdische Leben in der Stadt. Zum Pogrom von 1096 anlässlich des ersten Kreuzzugs heißt es: „Manche Kölner beteiligten sich am Sturm der Synagoge, andere boten den terrorisierten Juden Schutz in ihren Häusern.“
Bürger proben den Aufstand
Die Expedition ins kölnische Frühmittelalter endet mit dem Aufstand der Bürger gegen Erzbischof Anno II. im Jahre 1074. Eine Übergriffigkeit hatte den Zorn entfacht: Anno hatte am Rheinufer ein Schiff beschlagnahmen lassen, um den Bischof von Münster flussabwärts zu begleiten. Weil das Schiff bereits beladen war, kam es zum Streit mit dem Eigentümer, dann zu Handgreiflichkeiten, schließlich zur Eskalation. Zunächst floh Anno II. Hals über Kopf aus der Stadt. Doch der Erfolg der reichen Bürger war nicht von Dauer: Sie mussten Abbitte leisten. Dennoch sieht Karl Ubl in dem gescheiterten Aufstand einen „wichtigen Wendepunkt“ in der Geschichte der Stadt: „Weil die Kölner Bürger erstmals als Gemeinschaft auftraten und ihre eigenen Interessen gegen die Stadtherrschaft des Erzbischofs zu behaupten versuchten.“
Die „Heiligkeit“ der Stadt, die der Verfasser zum roten Pfaden seiner Betrachtung gemacht hat, überstand diesen Sturm – wie auch viele weitere Stürme. Bis ins 18. Jahrhundert hinein galt Köln als „Bastion des Katholizismus“. Erst als es nicht mehr zu verdrängen war, schreibt Karl Ubl, „dass diese Einigelung mit Rückständigkeit einherging, wich das Markenzeichen heiliges Köln im 19. Jahrhundert der Begeisterung für das karnevaleske Köln.“ Das soll man wohl so verstehen: Alaaf statt Amen.
Dem Historiker Karl Ubl gelingt ein Kunststück: Er macht das Frühmittelbar lebendig. Trotz großer Quellennot und erheblicher zeitlicher Distanz. Ein Band ist geglückt, der so lesbar wie lesenswert ist.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
finden sich Besprechungen zu weiteren Bänden aus der Reihe zur „Geschichte der Stadt Köln“:
Band 4 von Wolfgang Herborn und Carl Dietmar: „Köln im Spätmittelalter – 1288 bis 1512/13“ (HIER);
Band 5 von Gérald Chaix: „Köln im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1512/13 bis 1610“ (HIER);
Band 10 von Thomas Mergel: „Köln im Kaiserreich 1871 bis 1918“ (HIER).
Karl Ubl: „Köln im Frühmittelalter – Die Entstehung einer heiligen Stadt – 400 bis 1100“, Band 2 der von Werner Eck herausgegebenen „Geschichte der Stadt Köln“, Greven Verlag, 514 Seiten, 60 Euro.
