Die Pest, der Katholizismus und die „kleine Eiszeit“: Gérald Chaix erzählt die Geschichte der Stadt Köln im 16. Jahrhundert

Der Lettner in St. Maria im Kapitol markiert den Beginn der Renaissance in Köln. Foto: Bücheratlas

Wenn von Klimawandel, Migration und Epidemie die Rede ist – dann denkt man nicht sofort an das 16. Jahrhundert. Gleichwohl handelt davon der fünfte Band der groß angelegten und stetig wachsenden „Geschichte der Stadt Köln“. Nehmen wir nur die Seuchen zu jener Zeit! Da wüteten die Pocken und der „Englische Schweiß“. Vor allem aber war es die Pest, die Köln mehrfach heimsuchte.

„Schnell fliehen, langsam zurückkehren“

Besonders schlimm war es im Jahre 1564, als angeblich 200 Tote pro Tag zu beklagen waren. Damals empfahl Bernhard Dessen von Cronenburg, seines Zeichens Doktor der Medizin, seinen Mitbürgern: „Schnell fliehen, langsam zurückkehren.“ Die medizinische Versorgung in Köln war in jener Zeit „keineswegs zu unterschätzen“, wie wir jetzt lesen, „auch wenn sie der Allgegenwart des Todes weitgehend machtlos gegenüberstand und von wissenschaftlich fundierter Professionalität noch weit entfernt war.“  Da sind wir heutzutage mit Christian Drosten und Karl Lauterbach, mit Özlem Türeci und Ugur Sahin schon etwas weiter.

Allerdings liegt der Schwerpunkt der Untersuchung, die der Historiker Gérald Chaix vorlegt, nicht auf der Schilderung der Epidemien. Vielmehr widmet sie sich vor allem der Stadt als Hochburg des Katholizismus: „Köln im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1512 /13 – 1610“.  Dieser Band 5 ist der zehnte von insgesamt 13 Bänden der „Geschichte der Stadt Köln“. Sie wird von Werner Eck im Auftrag der Historischen Gesellschaft Köln im Greven Verlag herausgegeben. Es ist im Übrigen der einzige Band, bei der bislang eine Übersetzung vonnöten war – und zwar aus dem Französischen von Ursula Vones-Liebenstein.

Reformationszeit ohne Reformation

Gérald Chaix, 1947 in Paris geboren, war einst Lektor am Romanischen Seminar in Köln. Vermutlich rührt daher seine Affinität zur Stadt. Jedenfalls widmete er seine Dissertation den Kartäusern in Köln und seine Habilitationsschrift dem religiösen Leben in der Rheinmetropole des 16. Jahrhunderts. Von 1994 bis 2002 war er Professor für Moderne Geschichte an der Université François-Rabelais in Tours und leitete anschließend die Akademien in Strasbourg und Nantes.

Chaix geht in seiner Untersuchung vor allem der Frage nach, wieso die Reformation in allen großen Städten des Reiches Fuß fassen konnte – aber nicht in Köln. Den Sonderweg führt er unter anderem darauf zurück, dass es in der Stadt überdurchschnittlich viele Pfarreien und noch mehr Predigtorte gab. Bei einem solch vielköpfigen Chor haben es Gegenstimmen schwer gehabt. Auch war die Liturgie stark in den Alltag integriert, nicht zuletzt mit vielen kirchlichen Festtagen, zusätzlich zu den Sonntagen waren es rund 50 an der Zahl. Da drang die neue Forderung, von den Messen und Zeremonien Abstand zu halten, kaum durch. Die theologische Fakultät der Kölner Universität war weit und breit die erste, die die Schriften Martin Luthers verurteilte. Nicht zuletzt erwiesen sich die katholischen Institutionen als widerstandsfähig, „weil sich in ihrem Rahmen Glaubenspraktiken weiterentwickeln und Traditionen dennoch erhalten werden konnten.“

Renaissance am Rathaus

Von den Juden ist in diesem frühneuzeitlichen Religions-Tohuwabohu nur selten die Rede. Kein Wunder – sie waren 1424 aus der Stadt vertrieben worden. Wer als Jude von der anderen Rheinseite, also aus dem kurfürstlichen Deutz nach Köln wollte, musste „um Geleit nachsuchen“. Chaix schreibt: „Die Erinnerung an die rituellen Orte des kölnischen Judentums war im 16. Jahrhundert noch lebendig, wie die Mikwe zeigt, die verfüllt und als Stall benutzt wurde.“ Doch vermutlich war nicht die Erinnerung lebendig, sondern waren lediglich noch einige Bauspuren vorhanden. Aber nicht viele: Die Ratskapelle war auf den Ruinen der alten Synagoge erbaut worden.

Zu den Spezialgebieten des Historikers Gérald Chaix gehört die Renaissance. Deren Spuren geht er auch in Köln nach. Und siehe da: Köln hat nicht nur die Reformation verpasst. Auch die Renaissance ist an der Stadt weitgehend vorbeigerauscht. Immerhin gibt es Ausnahmen. Mit dem Lettner in der romanischen Kirche St. Maria im Kapitol wird der Beginn der Renaissance in Köln in Verbindung gebracht. Er stammt aus dem Jahr 1525 und ist in Mecheln angefertigt worden. Das berühmteste Zeugnis dieser Kulturepoche ist die Laube vor dem Historischen Rathaus. Sie wurde in den Jahren 1569 bis 1573 von Wilhelm Vernucken nach einem Entwurf von Cornelis Floris erbaut.

Weinsberg wie vom Schreibteufel besessen

Bei seiner Schilderung des 16. Jahrhunderts schöpft Chaix aus vielen Quellen. Doch kein Erzbischof, kein Bürgermeister, kein Künstler und nicht einmal der Reformator Luther wird annähernd so häufig genannt und zitiert wie Hermann Weinsberg (1518-1597) – das Register verweist über 50 Mal auf teils mehrseitige Erwähnungen. „Die Aufzeichnungen Weinsbergs sind in vielerlei Hinsicht einmalig“, schreibt Chaix, einmalig „aufgrund ihres Umfangs und aufgrund der großen Zeitspanne, die sie beschreiben: fast ein gesamtes Jahrhundert.“ Einmalig sei auch der Stolz auf die eigene Familie, der die Bücher durchziehe, und ihre autobiografische Dimension.

„Weinsbergs Werk lässt insofern Einblicke in die damalige Kölner Normalität zu, als dieser gut informierte, scharfsinnige und kritische Bürger das Verhalten seiner Mitmenschen, das Leben in seiner Pfarrei, in seiner Stadt, im Reich und sogar in der Welt schildert.“ In knapp 40 Jahren erstellte der Ratsherr und Weinhändler nicht nur das rund 500 Seiten starke „Boich Weinsberch“, sondern auch noch drei Gedenkbücher auf fast 2000 Folio-Doppelseiten. Der Mann sei offensichtlich „von einem Schreibteufel besessen“ gewesen, meint Chaix, denn er habe auch noch Kopierbücher, Rechnungsbücher und anderes mehr hinterlassen – insgesamt rund 10 000 Seiten.

Der französische Historiker Gérald Chaix hat sich schon vielfach mit der Kölner Stadtgeschichte befasst. Foto: Bücheratlas

„Köln gegen Köln“

Chaix entwirft ein breites Panorama, „eine Globalgeschichte der Stadt im 16. Jahrhundert“, wie er am Montag in einem Pressegespräch im Greven Verlag sagte. Diese präsentiert er in einer Mischung aus wissenschaftlicher Intensität und populärer Lesbarkeit in einem Band, der abermals exquisit gestaltetet, reich illustriert und mit dem Nachdruck des Mercatorplans von 1570 versehen ist. Ausdrücklich will Chaix mit dem Klischee aufräumen, das Köln jener Jahre sei nichts als dunkel gewesen. Ja, ihm ist daran gelegen, dass zumal die Kölnerinnen und Kölner ihre Stadt nach der Lektüre mit neuen Augen sehen.

So ist gottlob ist nicht alles Kirche, was zur Darstellung gelangt. Die politischen Wirren aus dem Stadtarchiv-Bestand „Köln gegen Köln“ nehmen einigen Raum ein. Sie zeugen vom ausgeprägten Bürgerwillen und münden in Dokumenten wie Transfixbrief (1513) und Summarischer Extrakt (1610), die den Verbundbrief von 1396, das wahre „kölsche Grundgesetz“, ergänzen. Dann sind da die vielen Flüchtlinge, die vor den Unruhen in den Niederlanden nach Köln fliehen und ihre neue rheinische Heimat mit einem Kreativitätsschub beleben. Spannend sind die Hinweise auf die Kunstszene mit dem „Malerfürsten“ Bartholomäus Bruyn dem Älteren und einem sich entwickelnden Kunstmarkt, auf den die Stadt auch heute noch stolz ist. Von vielem mehr zwischen Buchdruck und Prostitution ist die Rede.

Ins Bett mit pelzgefüttertem Schlafanzug

Auch die „kleine Eiszeit“ findet Beachtung. Gérald Chaix schreibt, dass die Winter seit den 1560er Jahren immer kälter wurden: „Im Rheintal führte dies dazu, dass der Fluss zeitweise zufror und es anschließend oft zu verheerenden Überschwemmungen kam.“ Aus diesem Grund fiel im Jahre 1565 der Beginn des Karnevals ins Wasser, bald darauf, am 16. April desselben Jahres, erfroren die Weinstöcke in der Stadt. Im Jahre 1571 schreibt Kronzeuge Weinsberg, dass er noch nie so viel Schnee gesehen habe. Man versinke darin bis zum Gürtel.

Ganz ohne Weltklimakonferenz wurden damals neue Wege eingeschlagen: Fenster wurden verglast, Öfen errichtet. Und Hermann Weinsberg? Er „gewöhnte sich daran, im Bett einen wollenen, pelzgefütterten Schlafanzug und eine gestrickte weiche Schlafmütze zu tragen.“

Martin Oehlen

Auf diesem Blog findet sich auch eine Besprechung des vorangehenden vierten Bandes aus der Reihe, der von Wolfgang Herborn und Carl Dietmar verfasst wurde und sich „Köln im Spätmittelalter – 1288-1512/13“ zuwendet. Mehr dazu HIER. Außerdem gibt es weitere Beiträge zur Kölner Stadtgeschichte, nicht zuletzt dargestellt in Büchern aus dem Greven Verlag, die sich über die Suchmaske auffinden lassen.

Gérald Chaix: „Köln im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1512 /13 – 1610“, dt. von Ursula Vones-Liebenstein, Band 5 der „Geschichte der Stadt Köln“, hrsg. von Werner Eck, Greven Verlag, 504 Seiten, 60 Euro. Als Halbleder-Ausgabe im Schuber: 105 Euro.

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