
Die Vollendung der Domtürme wurde 1880 mit einem Festumzug gefeiert. Foto: Bücheratlas
Köln erlebte im Kaiserreich wahrhaft stürmische Zeiten, wie Thomas Mergel in seiner Einleitung mehrmals versichert. Stürmisch war nach Ansicht des Professors für Europäische Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität der Aufbruch in die Moderne, stürmisch der Aufholprozess gegenüber anderen Kommunen, stürmisch auch der Veränderungsprozess auf allen Feldern. So recht hob das Gebrause mit der Schleifung der mittelalterlichen Stadtmauer im Jahre 1881 an, die die Entwicklung sichtbar eingeschnürt hatte. „Was jene bauen mussten, damit Köln groß werde“, sagte Oberbürgermeister Hermann Becker, „das müssen wir sprengen, damit Köln nicht klein werde.“
Der zehnte Band der großartigen „Geschichte der Stadt Köln“ setzt ein mit dem Ende des Deutsch-französischen Krieges im Jahre 1871 und er schließt mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, in dem rund 15 000 Soldaten aus Köln ums Leben gekommen sind. Zwischendrin gibt es am 15. Oktober 1880 das Fest zur Vollendung des Doms. In den Begrüßungsreden war von der nationalen Tradition die Rede, als deren Ausdruck der Dom angesehen wurde, aber auch vom bürgerschaftlichen Engagement, das damals wie noch heute so wichtig ist für das kölnische Wohlergehen. Der Kaiser war zumal vom Festumzug beeindruckt, in dem Kölner in historischen Kostümen mitwirkten, ja, er war so sehr „von Rührung ergriffen“, dass auf seinen Wunsch hin der Umzug gleich noch einmal wiederholt wurde.
Nachdem die Stadtmauer gefallen war, stieg die Einwohnerzahl enorm: „1914 hatte sich Kölns Bevölkerung im Vergleich zu 1871 verfünffacht“, schreibt Mergel. Und die Fläche der Stadt wuchs gar um das Fünfzigfache – Köln war damit „die größte Agglomeration Deutschlands“.
Der Eifer, mit dem sich die Kölner von der Stadtmauer getrennt hatten, ist bemerkenswert. Sogar Eintrittskarten wurden ausgegeben an jene, die den Abbrucharbeiten besonders nahe sein wollten. Nur mit hohem Einsatz gelang es einigen kulturhistorisch sensibilisierten Bürgern – darunter August Reichensperger, Leonard Ennen –, zumindest drei der Stadttore zu bewahren: das Severins- und das Hahnentor sowie die Eigelsteintorburg. Tatsächlich stellte sich dann schon bald stadtweit eine Sehnsucht nach den Zeugnissen der Vergangenheit ein. Es wuchs das Bedürfnis, das ein Zeitgenosse in Worte fasste: „künftigen Tagen ein anschauliches Bild vergangener Zeiträume der Stadtgeschichte zu überliefern“.

Das Eigelsteintor ist eines von drei mittelalterlichen Stadttoren, die bei der Schleifung der Kölner Stadtmauer erhalten geblieben ist. Foto: Bücheratlas
Zwar glaubte man in jenen Jahren, dass aufgrund der Erweiterung „auf Jahrhunderte hinreichender Raum“ vorhanden sei. Aber schon bald strebte der Stadtrat zu neuen Ufern im Rechtsrheinischen. Die Eingemeindung von Deutz und Poll war allerdings nicht unumstritten: „Die Schäl Sick war auch für viele Stadträte ein fremdes Land, der Rhein mehr eine Grenze denn eine Verbindung.“
Nicht zuletzt stellte sich die Identitätsfrage: Wer ist denn, wenn auch Deutzer und Poller und andere mehr dazugehören sollen, noch ein echter Kölner? Aus diesen Diskussionen entwickelte sich, sagt Mergel, ein „sublokales Sonderbewusstsein“. Nicht nur in der Südstadt. Auch die römische Gründung Deutz hatte ein durchaus entwickeltes und begründetes Selbstbewusstsein, das protestantische Mülheim ebenso. Die Bauerndörfer Poll und Müngersdorf gingen ihrer eigenen Wege und hatten mit der Stadt „kaum etwas zu tun“. Und Nippes, Ehrenfeld und Kalk waren sich ihrer proletarischen Prägung bewusst. Dass das liberal-katholische Köln – allen Neuzugängen zum Trotz – seine Identität bewahrt hat, führt Mergel auf das starke Band der Tradition zurück. Seien es kirchliche wie kulturelle Traditionen oder auch jene des Karnevals. Das liest sich wie eine historisch begründete Ermutigung an alle, die sich heutzutage wegen der Zuwanderung sorgen.
Aufbruch gab es zuhauf. Gerade auch in der Kulturszene der Stadt, deren „Infrastruktur“ so sehr verbessert wurde wie kaum je zuvor und danach. Um die Jahrhundertwende entstanden gleich mehrere neue Museen, die auf Privatsammlungen basierten: das Stadt- und Kunstgewerbemuseum, das Schnütgen-Museum, das Museum für ostasiatische Kunst und das Rautenstrauch-Joest-Museum. Sie bildeten „eine in Westdeutschland einzigartige Museumslandschaft“. Und mehr noch: Am Habsburgerring wurde 1902 ein Theater mit 1800 Sitzplätzen eröffnet, das vier Jahre später in „Opernhaus“ umbenannt wurde. Die Stadtbibliothek, aus alten Stadtrats-Fesseln befreit, wuchs gewaltig. Und das Stadtarchiv wurde völlig neu und professionell aufgestellt.
Auch Mergel kommt nicht umhin zu beklagen, dass der „Untergang des Stadtarchivs“ im Jahr 2009 für diesen Band – aber auch für die anderen Bände – „fraglos eine Katastrophe“ gewesen sei. Viele Quellen seien nicht mehr unmittelbar zugänglich gewesen und hätten nach der Sekundärliteratur zitiert werden müssen. Da fragt man sich, ob tatsächlich 95 Prozent der Dokumente geborgen werden konnten, wie offiziell angegeben wird.
Mergel, der 14 Jahre an seiner Untersuchung gearbeitet hat, entwirft ein breites und buntes Panorama Kölns. Das Spektrum reicht vom Kulturkampf zwischen Staat und Kirche bis zum Karneval, vom Stadtwald als grüner Lunge bis zum neu errichteten Bahnhofsgebäude, von den Oberbürgermeistern (darunter Hermann Becker, der 1875 gewählt wurde, ohne kandiert oder davon gewusst zu haben) bis zu den Kleinkriminellen (darunter die Paleotdiebe, die in Lokalen oder Theatern Mäntel von den Haken stahlen). Dazwischen geht es um die soziale Frage, Parteipolitik, Verwaltung, Wirtschaft und Klüngel. Es ist für die Stadt, die lange als vermufft gegolten hatte, die Zeit des Aufbruchs in die Moderne. Thomas Mergel führt all dies so seriös wie kurzweilig vor Augen. Und er findet einen Grund dafür, warum in Köln die Betonung des Besonderen ausgeprägter sei als in vielen anderen Städten: Je mehr die Stadt in der Moderne „ankam, desto mehr legte sie Wert auf ihre Eigenheit.“
Martin Oehlen
https://www.ksta.de/kultur/dom-vollendet–stadtmauer-geschleift-31617802
Thomas Mergel: „Köln im Kaiserreich 1871 – 1918“, Band 10 der von Werner Eck herausgegebenen „Geschichte der Stadt Köln“, die die Historische Gesellschaft Köln in Auftrag gegeben hat, Greven Verlag, 568 Seiten, 60 Euro.