Dramatischer Widerstand gegen den NS-Terror: Die vergessenen Theaterstücke von Hermann Borchardt im zweiten Band der Werkausgabe

Mit dem Widerstand gegen Adolf Hitler und das nationalsozialistische Deutschland befasste sich Hermann Borchardt als Dramatiker in „Die Brüder von Halberstadt“ und „Der verlorene Haufe“ sowie in dem unvollendeten Drama „Befreiung des Pfarrers Müller“. Unsere Abbildung zeigt den Innenhof zur Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Foto: Bücheratlas

Was für ein Clou! Im kleingedruckten Kommentarteil zum zweiten Band der Werkausgabe von Hermann Borchardt (1888-1951) findet er sich auf Seite 555. Dort lesen wir den beiläufig klingenden, gleichwohl erheblichen Hinweis: „Erst während der Arbeit an der vorliegenden Edition konnten die Herausgeber je ein Exemplar der verschollen geglaubten Stücke ausfindig machen.“ Gemeint sind damit Borchardts drei frühe Dramen „Die Bluttat in Germersheim“, die „Musik der nahen Zukunft“ und „Das rote Dokument“ aus den späten 1920er Jahren.

Ein Vertrauter von Brecht, ein Freund von Grosz

Auf Nachfrage erklärt Lukas Laier, der die Werkausgabe gemeinsam mit Hermann Haarmann und Christoph Hesse herausgibt, „dass wir zum Beginn der Arbeit an der Edition im Frühling 2019 davon ausgehen mussten, dass wir einige Stücke nicht bekommen würden, vor allem jene aus der Weimarer Zeit.“ Es waren dann drei „Glückstreffer“, die die Wende brachten – im Anhang zu diesem Beitrag schildert Lukas Laier die Details.   

Die Editionsgeschichte passt nur zu gut zu einem Autor, der einst in Kontakt stand zu den Größen seiner Zeit, nicht zuletzt zu Bertolt Brecht und George Grosz, und der doch in tiefe Vergessenheit geraten ist. Immerhin – es tut sich was. So ist im Jahre 2005 der Roman „Die Verschwörung der Zimmerleute“ im Weidle Verlag in Bonn erschienen. Das Monumentalwerk hatte 1943 in den USA wenig Zuspruch erfahren. Was Bertolt Brecht empörte, den Borchardt bei dessen Theaterstück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ (1931) unterstützt hatte. Er schrieb, dass Borchardts Werke „turmhoch über denen der Werfels und Konsorten stehen, da sie mit Schärfe und Leidenschaft die sozialen Kämpfe unserer Zeit behandeln.“ Und 2019 ist Borchardts Briefwechsel mit seinem Freund George Grosz veröffentlicht worden. Nun allerdings gewinnt die Wahrnehmung des Autors eine neue Dimension durch die auf fünf Bände angelegte Werkausgabe im Wallstein Verlag. Sie ist umso wertvoller, da sie eben nicht nur Bekanntes darreicht, sondern auch Verschollenes wieder zugänglich macht. Ein erster Band mit autobiographischen Schriften ist bereits erschienen und auf diesem Blog HIER vorgestellt worden. Nun also die Stücke. Und demnächst noch Prosa sowie Politische und Philosophische Schriften.

Aus Joelsohn wird Borchardt

Hermann Borchardt – eben nicht zu verwechseln mit Rudolf Borchardt (1877-1945) oder Wolfgang Borchert (1921-1947) – wurde als Hermann Joelsohn geboren und nahm 1925 den Nachnamen seiner Mutter an, um sich vor antisemitischen „Anzapfungen“ zu schützen. Erst 1927, bald 40 Jahre alt, veröffentlichte er sein erstes literarisches Werk: „Die Bluttat in Germersheim vor dem ewigen Richter“. Borchardt war „Revolutionär“ und „Reaktionär“, Jude und Kommunist, Schriftsteller und Gymnasiallehrer. Er war Gefangener in den Konzentrationslagern Esterwegen, Sachsenhausen und Dachau. Im Jahre 1937 gelang ihm die Emigration in die USA. Mehr über die bewegte Vita findet sich im Nachwort des ersten Bandes.

Sein Lebensweg wird in seinen Dramen vielfach gespiegelt. Dazu gehören die Auseinandersetzung und allmähliche Distanzierung vom Kommunismus, Ehe-Erfahrungen und Zwistigkeiten im Schulalltag, das Leiden im KZ, die Hinwendung zum Christentum und die neue Welt in den USA. Aus der Lager-Zeit finden sich einige Szenen, die wie Dokumente herausragen, heißt es im ausführlichen Kommentar.

Porträt Hermann Borchardts aus seinem Reisepass, mit dem er 1933 nach Frankreich flüchtete. Foto: Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Frankfurt am Main / Wallstein Verlag

Sechs Dramen zwischen Berlin und New York

Die Werkausgabe führt insgesamt sechs Theaterstücke auf, drei aus der Berliner und drei aus der New Yorker Zeit. Zudem dramatische Fragmente wie die „Befreiung des Pfarrers Müller“ sowie frühe Skizzen für das KPD-Satiremagazin „Der Knüppel“. Hier einmal die abgeschlossenen Dramen im Schnelldurchlauf.

„Die Bluttat in Germersheim vor dem ewigen Richter“ (1928) behandelt einen damals nur zwei Jahre zurückliegenden Konflikt zwischen Deutschen und Franzosen in der Pfalz. Eine Groteske mit einem bizarren Personaltableau von der Heiligen Elisabeth von Thüringen bis zu Jonathan Swift. Der irische Satiriker sagt an einer Stelle: „So is it.“ Ein Stück gegen rechte Kräfte, in dem noch vor Machtergreifung und Holocaust der Satz fällt, „dass alle Deutschen … immer behaupten, nichts gesehen zu haben.“

„Musik der nahen Zukunft“ (1928) schildert den Kampf des aufrecht-aufgeklärten Studienrats Bernhard gegen die allseits grassierende Tumbheit unter Kollegen und Genossen. In einem Brief an seinen Agenten bekennt Borchardt: die Hauptfigur „bin ich natürlich selbst“. Noch heute kann man sich über diese „Schulkomödie“ amüsieren, wenn etwa die Genossen in einem Versammlungssaal tricksen, um als Delegierte zum Kulturkongress nach Wien geschickt zu werden. Wäre auch zu dumm, wenn die Wahl schiefliefe, da man schon längst die Fahrkarten (Schlafwagen dritter Klasse) in der Tasche hat.

„Das rote Dokument“ (1929) ist ein „Antiparteistück“, das ideologische Heuchelei anprangert. Weil schon der Figurenreichtum auf manche Bühne abschreckend wirken könnte, fügte Borchardt den Hinweis an, dass bei Doppelbesetzungen „etwa zwölf Darsteller“ erforderlich seien.

„Die Brüder von Halberstadt“ (1938/1941), das erste im amerikanischen Exil entstandene Stück, schildert den christlichen Widerstand im NS-Staat. Es wurde von Borchardt selbst als „first Antinazi play“ bezeichnet. Den Zeugen Jehovas, deren Glaubensfestigkeit er im KZ kennengelernt hatte, setzte er in „Die Brüder von Halberstadt“ ein – so der Kommentar – „literarisches Denkmal“.

„Der verlorene Haufe“ (1939/1941) handelt abermals vom Widerstand, diesmal allerdings auf bürgerlich-militärischer Basis. Kurt Weill machte sich für eine Aufführung stark und empfahl das Stück dem US-Dramatiker Maxwell Anderson. Der pries das Werk aufgrund seiner tiefen Einblicke, aber verwarf es, da dessen  „Hoffnungslosigkeit“ beim amerikanischen Publikumsgeschmack keine Chance hätte.

„Die Frau des Polizeikommissars“ (1946) ist ein Psycho-, Moral- und Justizstück um eine Frau, die mit zwei Männern zugleich verheiratet ist. Das gab es auch noch in einer englischsprachigen Fassung unter dem Titel „The Police Commissioner’s Wife“. Der Gutachter John Byram urteilte sarkastisch, entweder sei der Autor ein schlechter Psychiater oder benötige einen guten.

Dramatiker ohne Aufführungs-Glück

Das wahre Drama ist allerdings das des Dramatikers selbst. Denn keines seiner Stücke wurde zu seinen Lebzeiten aufgeführt. Dabei gab es konkretes Interesse von prominenten Bühnen in Berlin. Brecht soll eine Inszenierung in Leipzig geplant haben. Auch hatte Borchardt namhafte Fürsprecher in den Kunstkreisen von Berlin und New York.

Theaterkritiker Alfred Kerr empfahl ihn für die „Piscator-Bühne“ und nannte ihn schon früh einen „jungen Komödienkönner“. Später war Borchardt sogar zu Konzessionen an den vermuteten amerikanischen Publikumsgeschmack bereit. Dies auch auf Anregung von Thomas Mann. Doch vergebens. Er sollte als Dramatiker kein Bühnen-Glück erleben – weder diesseits noch jenseits des Atlantiks. Seine Werke waren in der Theaterszene anerkannt oder zumindest im Gespräch, aber wurden nicht aufgeführt.  

Ghostwriter für Ernst Toller

Selbst das Drama „Pastor Hall“, das er für Ernst Toller (1893-1939) als Ghostwriter geschrieben hat, brachte ihm nicht die erhoffte Genugtuung. Denn Toller wagte eine Überarbeitung des Textes, der den Widerstand eines Pfarrers gegen die Nazis schildert (vielfach wird darin das Schicksal von Martin Niemöller erkannt, doch tatsächlich, so steht es im Kommentar, war ein Pfarrer Müller aus Ahlbeck das Vorbild). Tollers Veränderungen gingen Borchardt gegen den Strich und gegen die Ehre. Doch die Versuche, dem Kollegen das Stück zu entreißen, fruchteten nichts. Anschließend scheiterte auch die Bemühung, zumindest an den Tantiemen beteiligt zu werden.

„Pastor Hall“, in Ernst Tollers Todesjahr 1939 veröffentlicht, hatte einigen Erfolg. Es wurde an mehreren Bühnen aufgeführt und auch verfilmt. Davon konnte Hermann Borchardt nur träumen. Ja, es ist eine bewegende Literaturgeschichte, die mit und in dieser Werkausgabe erzählt wird.      

Martin Oehlen

  • Lukas Laier über die „Glückstreffer“

    Tatsächlich war es so, dass wir zum Beginn der Arbeit an der Edition im Frühling 2019 davon ausgehen mussten, dass wir einige Stücke nicht bekommen würden, vor allem jene aus der Weimarer Zeit. Denn noch 2005 bekräftigte Uta Beiküfner, die Herausgeberin der „Verschwörung der Zimmerleute“, sie seien nicht auffindbar. Die Stücke aus den USA lagen verteilt in den Nachlässen in Durham, North Carolina, und in Frankfurt, das wussten wir. Nur waren wir uns zunächst nicht im Klaren darüber, welche Fassung die jeweils letzte ist. Das konnten wir aber nach und nach klären.

    Das Problem mit den Stücken aus der Zeit der Weimarer Republik war, dass weder Manuskripte noch Typoskripte erhalten sind. Die wenigen gedruckten Exemplare dürften von geringer Stückzahl gewesen, da sie allein für den Bühnenbetrieb bestimmt waren. Unsere Chancen standen also nicht gut.

    Den ersten Glückstreffer machte mein Kollege Christoph Hesse, als er zufällig in einer Fußnote zur kommentierten Ausgabe der Stücke Ödön von Horváths („Sladek“) auf den Hinweis stieß, dass sich ein Exemplar der „Musik der nahen Zukunft“ in Urbana-Champaign, Illinois, befinde.

    Der zweite Glückstreffer gelang mir bei Recherchen in der Akademie der Künste hier in Berlin. Die Nachlässe von Borchardts lebenslangem Freund George Grosz und wiederum dessen Freund Otto Schmalhausen kannten wir bereits durch die Briefedition Grosz-Borchardt gut, doch in diesen fand sich nichts. Auch im Brecht-Archiv liegt keines der Stücke, obwohl Borchardt in der Entstehungszeit viel Austausch mit Brecht hatte und ihm nachweislich das Manuskript zur „Musik“ einfach so per Post schickte. Jedenfalls wurde ich schließlich im Nachlass des Regisseurs Egon Monk fündig, der erst wenige Jahre zuvor erschlossen worden war. Neben einem kompletten Typoskript der „Brüder von Halberstadt“ fand sich dort die „Bluttat in Germersheim“ – nach unserem jetzigen Kenntnisstand das einzige Exemplar eines Borchardt-Stücks aus der ersten Schaffensphase in Deutschland.

    Das uns bislang einzig bekannte Exemplar des „Roten Dokuments“ fanden wir schließlich in der Library of Congress in Washington auf Anfrage, weil uns schlicht kein anderer Ort einfiel, der das Stück zufällig archiviert haben könnte. Wie die Exemplare jeweils an ihren Ort gekommen sind, wüssten wir zu gerne. Aber dazu haben die Archive und Bibliotheken nichts vermerkt.

    ***

    Bei diesem Text handelt es sich um Auszüge aus einer E-Mail von Lukas Laier an Martin Oehlen im Juli 2022.

    Lukas Laier ist Mitarbeiter am Institut für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften (IKK) der FU Berlin. Gemeinsam mit Hermann Haarmann, (em.) Professor für Kommunikationsgeschichte mit dem Schwerpunkt Exilliteratur und Exilpublizistik an der FU Berlin, und Christoph Hesse, ebenfalls Mitarbeiter des IKK, gibt er die Werke von Hermann Borchardt heraus.

Auf diesem Blog

findet sich eine Besprechung des ersten Bandes der Hermann-Borchardt-Werkausgabe mit den autobiographischen Schriften – und zwar HIER.

Hermann Borchardt: Werke, Band 2: Stücke, hrsg. von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier, Wallstein Verlag, 688 Seiten, 49 Euro. E-Book: 38,99 Euro.

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