Verfolgt, vergessen und jetzt groß präsentiert: Hermann Borchardts Werkausgabe startet mit Rauswurf aus der UdSSR, Überleben im KZ und Exil in den USA

Fotografie aus dem Reisepass von Hermann Borchardt, mit dem er 1933 nach Frankreich geflohen ist. Foto: Nachlass Hermann Borchardt, Deutsches Exilarchiv 1933-1945, Frankfurt am Main

Hermann Borchardt (1888-1951) ist kein Influencer. Kein Garant für erhöhte Aufmerksamkeit bei bloßer Erwähnung. Nicht einmal in literarischen Kreisen ist er gängige Münze. Wer den Namen heute höre, lesen wir im ersten Band der kommentierten Werkausgabe, der verwechsele ihn womöglich mit Rudolf Borchardt oder Wolfgang Borchert. Seine Schriften seien „nicht einmal vergessen“, sondern schon zu Lebzeiten des Autors zumeist übersehen oder ignoriert worden. Immerhin – im Jahre 2004 ist ein Roman und 2019 der Briefwechsel mit seinem Freund George Grosz erschienen. Nun allerdings gewinnt die Wahrnehmung des Autors eine neue Dimension durch die auf fünf Bände angelegte Werkausgabe im Wallstein Verlag, die von Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier vom Institut für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften der FU Berlin herausgegeben wird. Schon der Auftakt mit den autobiographischen Schriften macht deutlich: Hermann Borchardt steht für ein deutsches Schriftstellerschicksal in der schwärzesten Phase des 20. Jahrhunderts.

Vom „Revolutionär“ zum „Reaktionär“

Geboren wurde er in Berlin als Hermann Joelsohn und nahm 1925 wegen des zunehmenden Antisemitismus den Nachnamen seiner früh verstorbenen Mutter an. Er war Jude und Kommunist, Schriftsteller und Gymnasiallehrer, floh 1933 nach einer Denunziation wegen einer angeblich antideutschen Abituraufgabe nach Paris und wurde Deutschlehrer in Minsk. Nach der Ausweisung aus der Sowjetunion kehrte er nach Hitler-Deutschland zurück, wo er KZ-Häftling in Esterwegen, Sachsenhausen und Dachau war. Die Emigration in die USA wurde 1937 durch die Unterstützung des Malers und Satirikers George Grosz möglich. Ehefrau Thea und die Kinder Susanne und Hans folgten. Im Exil wandelte sich Borchardt dann – wie es im Kommentar heißt – vom „Revolutionär“ zum „Reaktionär“. Bloch, Piscator, Kisch, Marcuse, Feuchtwanger und die Manns werden attackiert. Grosz spricht von Rundumschlägen. Im Nachwort verweist Lukas Laier auf das sich hier andeutende Phänomen der „Emigrantenpsychose“.

Hermann Borchardt verfasste zahlreiche politische und satirische Einlassungen. Zudem war er Dramatiker, für den sich Bertolt Brecht und Alfred Kerr einsetzten. Auch erwarben einige Bühnen – darunter das Theater am Schiffbauerdamm und Max Reinhardts Deutsches Theater – die Aufführungsrechte für einzelne Stücke. Allein – nie kam es zu einer Vorstellung.

Sein Roman „The Conspiracy of the Carpenters“ ist 1943 in einer gekürzten Fassung in New York erschienen. Die Resonanz war bescheiden. Bertolt Brecht, den er bei dessen Theaterstück „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ (1931) unterstützt hatte, schrieb zur Verteidigung des Romans: „Ich konstatiere bei den Emigranten heftige Abscheu, das Werk sei konfus, religiös, reaktionär, eine Schande. Nun ist Borchardt, bösartig wie viele Moralisten, ein abgründiger Provokateur, Übertreiber von Beruf als Satiriker usw. usw. Jedoch ist nicht zu vergessen, dass seine Werke turmhoch über denen der Werfels und Konsorten stehen, da sie mit Schärfe und Leidenschaft die sozialen Kämpfe unserer Zeit behandeln.“ Auf Deutsch erschien „Die Verschwörung der Zimmerleute“ im Jahre 2005 in zwei Bänden und auf über 1000 Seiten im Weidle Verlag. Da sich die Werkausgabe vor allem auf bislang unveröffentlichte Texte konzentriert, wird der Roman nun darin nicht aufgenommen.

„Mein Gott! Stellen Sie sich bloß so dumm?“

Vieles von dem, was in diesem Lebenslauf-Stakkato angedeutet ist, scheint in den autobiographischen Texten auf. Bei ihnen handelt es sich nicht um ein abgerundetes Oeuvre. Manches ist nur fragmentarisch angelegt, anderes verlorengegangen. Nicht alles, was man wissen möchte, wird geklärt. Um genau zu sein: Längst nicht alles.  

So ist schwer nachzuvollziehen, warum Borchardt, nachdem er vor den Nazis nach Paris geflüchtet ist, nicht eine ihm angebotene Lehrerstelle im nahen Dijon annimmt, sondern im fernen Minsk. Spätestens bei der Ankunft im Jahre 1934 in Belarus, als ihm sogleich geraten wird, sich nicht über mangelnde Badewannen zu beklagen, ist offensichtlich, dass es mit dem Sowjet-Kommunismus so eine Sache ist. Schlimmer als angenommen. Ein Fräulein G. klärt ihn auf, dass er sich schon mit dem Reißverschluss am Gepäck verdächtig mache: „Es sieht aus, als wollten Sie sich von uns abschließen und hätten Angst vor Ungeziefer.“ Auf seine spontane Nachfrage, ob es denn Ungeziefer gebe, reagiert Fräulein G. ein wenig fassungslos: „Mein Gott! Stellen Sie sich bloß so dumm? Hier gibt es, was in der Zeitung steht, und da werden Sie kein Ungeziefer finden.“

Regisseur Billy Wilder („Eins, zwei, drei“) hätte an solchen Drehbuch-Sätzen seinen Spaß gehabt. Aber leider war es schiere Realität. Als Borchardt nach zwei Jahren frustrierender Lehrertätigkeit immer noch nicht bereit ist, die deutsche Staatsbürgerschaft abzulegen und die sowjetische anzunehmen, wird er Hals über Kopf des Landes verwiesen.

Esterwegen, Sachsenhausen, Dachau

Borchardts autobiographische Texte sind geprägt von einer hohen Erfahrungsdichte. Das gilt vor allem für die Berichte über sein Jahr in deutschen KZ, das dem Minsker Rauswurf folgte. Dieses Lagerbuch entstand wohl unmittelbar nach seiner Ankunft in New York. Dass er in der Terrorhaft „lediglich“ das Gehör auf einem Ohr, zudem sechs Zähne und einen Mittelfinger verloren hat, scheint einem Wunder gleichzukommen.

Der Tod war nie fern in Esterwegen, Sachsenhausen, Dachau. Als es Hermann Borchardt einmal nicht gelingt, die Erde auf seinem Spaten in der Art weiterzuschleudern, die dem SS-Posten gefällt, brüllt der eine Frage: „Willst du sterben?“ Worauf der Gefangene antwortet: „Jawohl, Herr Scharführer“. So sagt er es, „weil ich kein Spielverderber bin und den Zustand des Stumpfsinns schon erreicht hatte.“ Umgehend muss Borchardt eine Grube ausheben. Anschließend wird zwei Mitgefangenen befohlen, aus einiger Entfernung Erdschollen auf ihn zu werfen, keinen losen Sand, sondern feste Klumpen, die auf dem Körper aufschlagen. Das Höhnen der SS, die irre Lust am Sadismus, die blödsinnigen Verleumdungen im Zeichen von Antireligiosität und Antiintellektualismus – immer wieder unfassbar. Das geht bei Borchardt an jenem Tag so weiter bis kurz vorm Ersticken.

„Ich bin ganz braungebrannt“

Einige Briefe aus dem KZ an seine Ehefrau Thea sind ebenfalls dokumentiert. Solche Post unterlag strenger Zensur. Gleichwohl gelang es Hermann Borchardt, auch mal einen sarkastischen Subtext zu formulieren: „Zu essen ist überreichlich da. Ich bin ganz braungebrannt.“ Derartiges muss man sich im naziverseuchten Umfeld erst einmal trauen.

Um es mal kurz pathetisch anzugehen: Aus dem Nebel der Vergangenheit tritt hier eine Persönlichkeit hervor, die mit jedem Band der Werkausgabe an Profil gewinnen wird. Allein schon die Edition der fragmentarischen Lebenserinnerungen ist ein Gewinn. Sie liefert nicht nur ein markantes Zeitzeugnis. Auch ist sie – wie es im Nachwort heißt – eine „fortwährende Ermutigung, jedwedem Zeitgeist zu misstrauen und sich die Freiheit zuzumuten, selbst zu denken.“

Martin Oehlen

Der Editionsplan

Band 1: Autobiographische Schriften

Band 2: „Die Bluttat von Germersheim vor dem ewigen Richter“ – Stücke (2022)

Band 3: „Geschichte einer Edelfrau“ – Prosa (2023)

Band 4: „No Reich to the Germans“ – Politische Schriften (2024)

Band 5: „Traktat über die Unsterblichkeit“ – Philosophische Schriften (2025)

Hermann Haarmann, Christoph Hesse, Lukas Laier (Hrsg.): Hermann Borchardt – Werke, Band 1:  Autobiographische Schriften, Wallstein Verlag, 360 Seiten, 34,90 Euro. E-Book: 27,99 Euro.

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