
Als Thomas Kling zehn Jahre alt war, bekannte er in einem Schulaufsatz, dass er Juwelier werden möchte. Zu diesem Berufswunsch verleitete ihn wohl vor allem seine Leidenschaft für die Bernsteinsuche an der Ostsee. Der Schulaufsatz – datiert auf den 5. Juni 1967 – endet mit dem lyrisch-suggestiven Dreiklang „Bernsteinvorrat, Bernsteinvorrat, Bernsteinvorrat“.
„worte. und deren hintergrundstrahlung“
Zwar ist Thomas Kling (1957-2005) nicht Juwelier geworden. Aber auch als Lyriker war er für allerlei Kostbarkeiten zuständig, in denen Vergangenheit und Gegenwart versiegelt sind wie Fossilien im Bernstein-Harz. Daran erinnerte im Juli 2021 ein Symposium auf der Raketenstation Hombroich bei Neuss, wo Thomas Kling gelebt hat und wo sich heute sein Nachlass befindet, den seine Witwe, die Künstlerin Ute Langanky betreut. Eine Dokumentation der Gespräche und ein Archiv-Rundgang (der auch den „Bernsteinvorrat“ auf Papier und in Stein berücksichtigt) liegt nun im Lilienfeld Verlag vor: „worte. und deren hintergrundstrahlung“. Für Freunde der Literatur im Allgemeinen und solche der Lyrik im Besonderen ein Vergnügen und für Thomas-Kling-Fans eine Pflichtlektüre.
Anlass für das Symposium war das Erscheinen der famosen Werkausgabe, die wir auf diesem Blog HIER vorgestellt haben. Im Zentrum steht das Gespräch, das der Literaturkritiker Tobias Lehmkuhl mit den Herausgebenden Frieder von Ammon, Marcel Beyer, Peer Trilcke und Gabriele Wix, aber auch mit Kerstin Stüssel und Norbert Wehr geführt hat. Da ging es nicht nur um eine so grundsätzliche Frage wie jene, wann „ein Werk ein Werk“ sei und in eine Werkausgabe aufgenommen werden sollte – es ist ja längst nicht alles gedruckt und veröffentlicht worden, was im Nachlass von Thomas Kling gefunden wurde. Auch legte die Gesprächsrunde offen, was ihr die intensive Beschäftigung mit sämtlichen Gedichten und Essays an neuen Einsichten beschert hat.
„Damit hatte ich nicht gerechnet“
Gabriele Wix antwortete als Erste auf die einschlägige Frage: „Seine Ironie kennt man ja, aber Thomas Kling kann auch einen ganz unbeschwerten, wirklich fröhlichen Humor zeigen. Damit hatte ich nicht gerechnet.“ Kerstin Stüssel, Literatur-Professorin in Bonn, wurde durch die Werkausgabe vor Augen gestellt, „an wie vielen Orten und Medien Kling gleichzeitig gearbeitet hat, interveniert hat“. Peer Trilcke räumte ein, dass er ein fixes Bild vom Werk gehabt habe, das dann allerdings „explodiert“ sei: „Irgendwie war er – scheint mir heute – ganz früh schon da, wo ich ihn bisher erst am Ende gesehen habe.“
Für Frieder von Ammon „war eine der großen Überraschungen die große Kontinuität bestimmter Motivkomplexe, sogar einzelner Metaphern.“ Aufregend sei auch der Blick auf Kling als Filmkritiker. Marcel Beyer ist auf eine weitere, ihn überraschende Kontinuität gestoßen: „Thomas Kling als ruhiger, mitfühlender Betrachter“ sei keine Novität des Spätwerks, wie er angenommen habe. „Nun, bei der Arbeit im Archiv, hat er mich überrascht, weil für ihn im Schreiben diese Facette nie in Frage stand.“ Und Moderator Lehmkuhl hat auf der Basis der bislang unveröffentlichten Verse den „Gelegenheitsdichter“ entdeckt, der das Gedicht als „Tagebuchnotiz, als Skizze“ nutzte, als „alltägliches Ausdrucksmedium“.
„Neue Kölner Dichterschule“
Vieles mehr wird in den Beiträgen von Hans Jürgen Balmes, Marcel Beyer, Sophia Burgenmeister, Raphaela Eggers, Samuel Hamen, Ute Langanky, Isabel Rakar, Monika Rinck und Anja Butler erörtert. Dazu zählt die Selbstinszenierung vor einem Gemälde von Francis Picabia ebenso wie ein Gang durchs Archiv, zudem die „Neue Kölner Dichterschule“ (mit Kling und Beyer, Dieter M. Gräf und Norbert Hummelt) und ein Blick auf Thomas Kling als Förderer und Anreger (u. a. für Sabine Scho und Anja Utler).
Klar, das alles ist ein literarisches Spezialprogramm. Aber wer an einem Werk interessiert ist, dem kann es bei dessen Erörterung kaum detailliert genug zugehen. Das führt uns zu dem Satz: Mit der Herausgabe der gesammelten Werke ist immer noch nicht alles veröffentlicht, was Thomas Kling geschrieben hat.

„Ich werde das nicht machen“
Die Edition der Korrespondenz – Postkarten, Briefe, E-Mails – steht noch aus. Allerdings gibt es editorische Fallstricke. Einen davon hat „Schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr beschrieben. Als er Auszüge aus einem Briefwechsel von Thomas Kling mit Franz Josef Czernin gedruckt hat, so erzählt er es auf dem Podium, habe Ute Langanky „auf sehr vielen Schwärzungen und Auslassungen bestanden, weil es so viele Beschimpfungen noch lebender Personen gab.“ Aus dem Publikum heraus ergänzte nun Ute Langanky: „Weil Thomas so jung verstorben ist, verbleiben viele seiner Zeitgenossen mitten im Leben stehend.“ Ja, das kann Ärger geben.
Aber nicht nur deshalb bekannte Marcel Beyer auf dem hier dokumentierten Symposium, dass er die gewiss aufwändige Edition der Korrespondenz nicht auch noch übernehmen werde. Dazu der ausdrückliche szenische Hinweis im Gesprächsprotokoll: „(lacht)“. Und weiter: „Ich stehe gerne für Auskünfte zur Verfügung, aber ich werde das nicht machen.“ Das ist so bedauerlich wie nachvollziehbar. Aber da wird sich doch wohl eines Tages noch eine oder einer finden, um diesen Fundus zu sondieren. Noch mehr „worte“, noch mehr „hintergrundstrahlung“ – und ein noch größerer Bernsteinvorrat.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
finden sich einige Beiträge zu Thomas Kling. Da gibt es eine Ortsbesichtigung der Raketenstation Hombroich (HIER), eine Würdigung der vierbändigen Werkausgabe (HIER) und „Ein Fest für Thomas Kling“ in Bonn (HIER).
Raphaela Eggers, Ute Langanky, Marcel Beyer (Hrsg.): „worte. und deren hintergrundstrahlung – Thomas Kling und sein Werk“, Schriftenreihe Literatur der Kunststiftung NRW, Band 15, Lilienfeld Verlag, 172 Seiten, 20 Euro.
Thomas Kling: Werke, hrsg. von Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke und Gabriele Wix, Suhrkamp, vier Bände in Kassette, 2690 Seiten, 148 Euro.


Danke für die stetige Thomas Kling-Berichterstattung. Ein lebendiger Klassiker. (Als toter Klassiker würde er es auch nicht ausgehalten haben.) Nach einer Lesung mit Schlagzeuger Frank Köllges aus dem Zyklus „Der erste Weltkrieg“ (bin mir wegen des Titels nicht sicher, Kleinschreibung mindestens, nehme ich an) im DuMont Studio Köln vor vielleicht 20 Jahren sagte er ins geflashte Publikum: „Jetzt können Sie auch mal klatschen!“
Das ist bei St. Thomas immer angebracht.
Bei dem Materialienband von Hubert Winkels ärgerte mich seinerzeit (2005), dass die Einzelverweise der Texte, die fast alle schon vorab veröffentlicht worden waren, nicht angegeben wurden – und das bei einem Quellenpedanten wie Thomas Kling!
Ja, werde mir die Werkausgabe kaufen, muss aber noch was warten.
Grüße aus Limoges, dem Exil-Ort Raoul Hausmanns.
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Vielen Dank für den Zuspruch! Und ebenso für die treffenden Thomas-Kling-Zuschreibungen – von „St. Thomas“ bis „Quellenpedant“. Herzliche Grüße nach Limoges, M. Oe.
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möchte auch die werkausgabe haben.
muss auch noch warten.
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und ebenso dank an den bücheratlas für’s „klinge(l)n“ … 😉😃🌞
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Sehr gerne geschehen! Da bleiben wir dran.
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Dann kann man ja jetzt schon mal die Vorfreude genießen 👍
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