
Tartarin aus dem Städtchen Tarascon ist ein Held ohne Furcht und Tadel. Zugegeben – er hat nicht die Figur eines Adonis und besitzt nicht die Kräfte eines Supermanns. Aber mit seinen Aufschneidereien hat er sich schon viel Anerkennung erworben. Ein Mann der Tat und auch des Wortes – das steht fest.
Der Meister unter den Mützenschützen
Dem wackeren Südfranzosen genügte es eigentlich, allsonntäglich mit seinen Freunden auf die Jagd zu gehen und auf die hochgeworfenen Mützen zu schießen (weil das Wild einfach nicht aus der Deckung kommen will). Tartarin ist ein vorzüglicher Mützenschütze – nicht so einer wie der Apotheker, der sich beim Mützenmacher durchlöcherte Mützen besorgt, um sich damit brüsten zu können, den Stoff getroffen zu haben. Auch als Arien-Schmetterer ist Tartarin eine große Nummer. Jedenfalls ist er im Hause des Apothekers weltberühmt. Da ringen die Damen um Fassung und die Herren um Haltung.
Ja, Tartarin ist ein toller Hecht. Davon ist ganz Tarascon überzeugt. Und mehr bedürfte der Mann auch nicht zu seinem Wohlbefinden. Eigentlich.
Die Löwen von Algier
Doch wie es kommt, so kommt es – und wir verzichten auf die famosen Details, die Alphonse Daudet (1840-1897) in seinem Klassiker „Tartarin aus Tarasacon“ anführt, dem Auftakt zu einem Dreiteiler. Jedenfalls ist es im liebenswürdigen Örtchen plötzlich ausgemachte Sache, dass der so ehrenwerte wie verehrte Tartarin sich aufmachen werde, um in Algier Löwen zu jagen. Da nun sitzt er zwischen Baum und Borke. Zwei Herzen schlagen in seiner Brust – das des draufgängerischen Don Quichotte und das des bänglichen Sancho Pansa. Der eine Tartarin denkt an den Ruhm, der andere an sein Rheuma.

Wir machen es kurz und verraten nicht zu viel: Tartarin bricht auf mit Waffenkiste und Patentzelt. Dass die Sache mit der Löwenjagd darunter leidet, dass unser Held weder in Algier noch in Algerien wilden Löwen begegnet, ändert nichts daran, dass er bei seiner Heimkehr wie ein Held gefeiert wird. Das Großmaul, das zwischendurch sehr schmallippig wurde, hat es mal wieder aller Welt gezeigt. Wie? Das muss man gelesen haben.
Erstmals vor 150 Jahren in Buchform
Im Jahre 1872, vor 150 Jahren, erschien der Tartarin des Alphonse Daudet erstmals im Buche, nachdem er zuvor als Zeitungsroman in Fortsetzungen angeboten worden war. Sehr schnell trat Tartarin seinen Siegeszug auch im deutschsprachigen Raum an. Die Zahl der Ausgaben und Übersetzungen ist enorm. Nun kommt eine weitere und besonders schöne hinzu. Die Kombination aus dem deutschen Text von Ernst Weiß und den Bildern von Jacques Touchet, für die sich der Verlag Faber & Faber entschieden hat, ergibt eine gleichermaßen bibliophile wie attraktive Ausgabe. Sie ist liebevoll gestaltet bis in die Randbereiche der Seiten (und die ein, zwei Tippfehler im Nachwort bezeugen gleichsam die ansonsten waltende Sorgfalt).
Wahrlich fabelhaft ist die Übersetzung von Ernst Weiß (1882-1940) aus dem Jahre 1939. Sie verbindet die immerwährende Ironie mit einem hohen Ton und verwendet so rare Vokabeln wie „männiglich“ und „mitteninne“. Allerdings ist unsere Sensibilität mittlerweile um ein paar Erfahrungen geschärfter als ehedem. Wenn Ernst Weiß von „Negerin“ und „Neger“ spricht, dann ist dies eine immerhin wortgetreue, aber dennoch aus der Zeit gefallene Übersetzung von „négresse“ und „négre“. Und wie eine Verschärfung des Originals klingt es, wenn er „des tribus de juifs algériens“ nicht mit „Stämme“ übersetzt, sondern „ganze Rudel von algerischen Juden“ am Spieltisch auftauchen lässt. Wer also diese Übersetzung liest, muss das Entstehungsdatum im Kopf behalten.
Flucht vor den Nazis
Ernst Weiß selbst stammte aus einer jüdischen Familie. Der promovierte Mediziner wurde von Franz Kafka in seinen schriftstellerischen Ambitionen bestärkt und veröffentlichte neben Dramen und Gedichten zahlreiche Romane – von „Die Galeere“ (1913) bis „Ich, der Augenzeuge“ (1939). Weiß floh 1933 vor den Nazis aus Berlin, wo er mit Ödön von Horvath befreundet war. „Als der Reichstag brannte“, schreibt Peter Engel in einem biografischen Abriss, „saß er mit Joseph Roth und Ludwig Marcuse in einer Gaststätte am Kurfürstendamm und wusste, was die Stunde geschlagen hatte.“
Er zog erst nach Prag und 1934 nach Paris. Dort wurde er ob seiner finanziellen Notlage von Thomas Mann und Stefan Zweig unterstützt (denen er je einen seiner Romane widmete). Als am 14. Juni 1940 die deutschen Truppen in die französische Hauptstadt einzogen, nahm sich Weiß das Leben. Kurz zuvor hatte Anna Seghers ihn in Paris kennengelernt: Sein Schicksal hat sie in ihrem Roman „Transit“ gespiegelt.
Abenteuer in Aquarellfarben
Michael Faber konzentriert sich im hilfreichen Nachwort auf die Illustrationen, die der Geschichte im Laufe der Jahrzehnte zuteilwurden. Die Aquarelle von Jacques Touchet, die in Frankreich 1942 während der deutschen Besatzungszeit erschienen sind, hält er für „wunderbar“ und hat sie deshalb für diese Jubiläumsausgabe gewählt. Sie zeigen den Helden aufs Schönste inmitten seiner vielfältigen Turbulenzen.
Alphonse Daudets „Tartarin aus Tarascon“ erscheint bei Faber & Faber im Schuber in der Reihe „Weltliteratur in illustrierten Ausgaben“. Dort wird auch „Die göttliche Komödie“ von Dante Alighieri angekündigt – allerdings soll die Prachtausgabe im Folio-Format erst im August 2099 erscheinen. Das ist eine Ankündigung, die eines Tartarin aus Tarascon würdig wäre.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
findet sich ein Beitrag zu Alphonse Daudets „Briefe aus meiner Mühle“ und dem angeblichen Standort der Mühle in Südfrankreich – all das HIER.
Anmerkungen zum Start des Verlags Faber & Faber gibt es HIER.
Alphonse Daudet: „Tartarin aus Tarascon“, dt. von Ernst Weiß und mit Illustrationen von Jacques Touchet, Faber & Faber, 184 Seiten, 36 Euro.
