
Sam ist ein Schimpanse. Ein Primat fast wie wir. Er ist die Zentralfigur in T. C. Boyles Roman „Sprich mit mir“. Sams Spezialität: Er kann sich mit Gebärden verständlich machen. Auch versteht er einiges von dem, was Menschen mit ihrer Stimme formulieren. Dass er darüber hinaus gerne mal am Champagner nippt oder einen Besucher bekifft lächelnd begrüßt, wundert da kaum noch. Ist aber lustig.
Liebe auf den ersten Blick
Der sprechende Schimpanse ist – irgendwann in den 1970er Jahren in den USA – das aufsehenerregende Forschungsgebiet von Psychologie-Dozent Guy Schermerhorn. Allerdings muss der Hochschullehrer immerzu darum kämpfen, genügend Forschungsgelder an Land zu ziehen. So tritt er eines Tages mit dem Schimpansen in einer Fernsehshow auf. Dort sorgt Sam für Heiterkeit mit dem Wunsch nach einem Cheeseburger und der Frage, wann man denn nachhause fahre. Die Studentin Aimee Villard, die den TV-Auftritt zufällig am Bildschirm sieht, ist hin und weg. Sie setzt alles dran, bei diesem Forschungs-Projekt dabei zu sein. Und siehe da: Sam ist begeistert von der studentischen Hilfskraft. Es ist Liebe auf den ersten Blick.
Aimee wird seine innigste Bezugsperson, die für ihn durchs Feuer geht. Das muss sie auch bald schon. Denn Sams relative Freiheit wird bedroht. „Diese ganze Sache – Sprachforschung – ist tot oder kurz davor.“ teilt Instituts-Direktor Donald Moncrief seinem Kollegen Guy mit. Weil das Interesse an der Forschung plötzlich nachlässt, könnte Sam bald schon als Versuchstier der medizinischen Forschung dienen. Doch Aimee setzt alles dran, damit dieses empfindsame, intelligente, offenbar seiner selbst bewusste Wesen nicht in einem Laborkäfig endet. Guy sagt: „Er ist ein Tier.“ Aimee kontert: „Ist er nicht. Er ist eine Person, das weißt du genau – er kann sprechen, er kann denken, er liebt uns.“
Der historische Roman im neuen Stil
T. C. Boyles literarische Welterkundung, die 1982 am Niger in Afrika begonnen hat, führt uns abermals auf ein gänzlich neues Feld. So sehr Boyle nach Neuland strebt, so sehr bleibt er auf dem Boden der Tatsachen. Bei Boyle landet der historische Roman jedes Mal in einem Jungbrunnen. Seine Geschichten sprühen vor Fantasie, dramatischer Zuspitzung, witzigem Twist. Doch allemal sind sie faktenbasiert. Wer mehr wissen will über Hippies, Einwanderer, Umweltschützer und Zukunftsforscher in den USA, ist bei Boyle bestens aufgehoben. Gerne auch widmet er sich historischen Persönlichkeiten und ihren jeweiligen Fachbereichen – Mungo Parks (Afrika), John Harvey Kellogg (Ernährung), Alfred Charles Kinsey (Sex), Frank Lloyd Wright (Architektur) und zuletzt in „Licht“ Timothy Leary (Drogen).
Auch der Fall des gebärdenden Schimpansen ist nicht aus der Luft gegriffen. T. C. Boyle schreibt uns:
„Sam basiert lose auf Nim Chimpsky, aus dessen Biografie viele Details der erwähnen Experimente stammen. Wenn sich mein Roman ‚Das Licht‘ mit dem menschlichen Bewusstsein beschäftigte, dann erforscht dieser neue Roman, was die anderen Tiere wahrnehmen könnten. Diese Frage fasziniert mich seit meinem ersten Buch, der Kurzgeschichten-Sammlung ‚Descent of Man‘, das ich während meiner Studentenzeit in Iowa geschrieben habe.“
Dem Band, der 1979 erschienen ist, hatte Boyle ein Zitat aus Franz Kafkas „Bericht für eine Akademie“ vorangestellt. Es ist jene Erzählung, in der ein Affe schildert, wie er lernte, die Menschen zu imitieren, und schließlich „die Durchschnittsbildung eines Europäers“ erlangte.
Nim Chimpsky, Koko und jetzt Sam
Einige Bücher geben Auskunft über den historisch nachweisbaren Nim Chimpsky (1973-2000), dessen Name anspielt auf den Sprachwissenschaftler Noam Chomsky, der allein den Menschen in der Lage sieht, über Sprache/Gebärden zu kommunizieren. Nim ist nicht das einzige tierische Wesen, das der Sprachforschung diente. Wer sich im Netz umsieht, stößt überdies auf Videos mit der Gorilla-Dame Koko (1971-2018), der die Psychologin Francine Patterson das Gebärden beigebracht hatte. Einige Szenen könnten als Vorlage für den Boyle-Roman gedient haben – das beiläufig gebärdende Tier, die entflammte Forscherin, die lange Leine für die Spaziergänge, der Lieblingsbaum, der Wohnwagen. Doch die Geschichte, die der Roman erzählt, nimmt in beiden Fällen einen anderen Verlauf: Sam ist nicht Koko und nicht Nim Chimpsky.
Aus verschiedenen Perspektiven, nicht zuletzt aus der von Sam, erzählt Boyle dieses Forschungskapitel. Darin nistet eine anregende Irritation: Wie groß ist der Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse? Was können uns die Tiere sagen? Und nicht zuletzt – welches Leid fügen wir ihnen im Dienste der Forschung zu?
Das alles ist spannend und anrührend, aber nicht kitschig erzählt. Das ist informativ. Das lohnt sich. Das ist T. Coraghessan Boyle wie wir ihn schätzen.
Martin Oehlen
Ein Gastbeitrag von T. C. Boyle, den er für diesen Blog geschrieben hat, findet sich HIER .
Auf diesem Blog gibt es außerdem eine Besprechung von T. C. Boyles Roman „Das Licht“ – und zwar HIER .
T. C. Boyle: „Sprich mit mir“, dt. von Dirk van Gunsteren, Carl Hanser Verlag, 350 Seiten, 25 Euro. E-Book: 18,99 Euro.
