Auf der Suche nach Noëlle: Nobelpreisträger Patrick Modiano flaniert in „Unsichtbare Tinte“ erneut durch die Erinnerung

Paris in einem Frühling ohne Pandemie Foto: Bücheratlas

Noëlle Lefebvre ist verschollen. Verschwunden in Paris in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In der Detektei Hutte setzt man den jungen Jean Eyben auf den Fall an. Doch das Dossier, das ihm in die Hand gedrückt wird, füllt sich nicht erheblich. Bald bereits verliert die Detektei Hutte – sie spielte schon in dem Roman „Die Gasse der dunklen Läden“ von 1978 eine Rolle – das Interesse an dieser Noëlle Lefebvre. Allein Jean Eyben bleibt dran, ohne dass er recht zu sagen wüsste, was ihn immer wieder zu Recherchen veranlasst. Selbst Jahrzehnte später, als er längst nicht mehr für die Detektei arbeitet. Verbindet ihn womöglich mehr mit der verschwundenen Frau als die gemeinsame Herkunft aus der Gegend um Annecy?

Stil und Sujet sind unverkennbar modianoesque. Den Hinweis, er schreibe immer weiter an dem einen Buch, bestätigt er selbst. So sind seine Romane, auch die jetzt auf Deutsch erschienene Nummer 29 mit dem Titel „Unsichtbare Tinte“, kunstvolle Variationen seiner Suche nach der verlorenen Zeit. Modiano ist der Autor der Erinnerung, der an Frauen zumal. Als solcher wurde er 2014 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt: „Für die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der deutschen Besatzung sichtbar gemacht hat.“

Von Maurice Blanchot, dem Résistance-Kämpfer und Schriftsteller, stammt der Vorspruch zum neuen Roman: „Wer sich erinnern will, muss sich dem Vergessen anheimgeben, dieser Gefahr, die vollkommenes Vergessen ist, und diesem schönen Zufall, denn aus ihm wird Erinnerung.“ Mit Nachdruck macht Modiano nun deutlich, spricht es sogar direkt aus, dass man der Erinnerung Zeit lassen müsse. Zwingen dürfe man sie nicht. Auch nicht als Autor, den seine Gedächtnislücken plagen. Nur dann dämmert auf einmal, was auf ewig untergegangen zu sein schien. Wie eine unsichtbare Tinte, so heißt es titelgebend im Roman, die plötzlich aus dem Weiß des Papiers aufscheine: „Es reicht, dass die Zeit verstreicht.“

Zunächst folgen wir Jean Eybens Journal. Darin schildert er seine Nachforschungen, vor allem die Begegnungen mit Menschen, die Noëlle gekannt haben. Diese Zeugen sind nicht immer vertrauenerweckend, manchmal ein wenig rätselhaft, in Einzelfällen wechseln sie den Namen. Überhaupt scheint das Geheimnis des Falles nur noch größer zu werden, je mehr Informationen ans Licht kommen.

Dann aber bricht dieser Erzählstrang im letzten Viertel des Romans abrupt ab. Plötzlich befinden wir uns nicht mehr in Paris, sondern in Rom, wo die Mitarbeiterin einer wenig frequentierten Galerie in der Via della Scrofa einen Besucher begrüßt. Einen Franzosen in ihrem Alter. Der Fremde kommt der Frau bekannt vor, aber sie weiß nicht, woher. Auch scheint er einige Personen aus ihrem Umfeld zu kennen. Die Frau ist irritiert und sagt: „Ja wirklich, ich habe den Eindruck, Sie schreiben gerade einen Roman … wegen dieser Leute mit den merkwürdigen Namen, für die Sie sich interessieren.“ Was davon zu halten ist, was es mit Noëlle und Jean auf sich hat, mag nun jede Leserin und jeder Leser selbst ergründen.

Patrick Modiano gelingt es auch in „Unsichtbare Tinte“ („Encre sympathique“), eine Atmosphäre, einen Echoraum, eine Spannung zu kreieren, die süchtig machen. Süchtig nach dieser einsamen Spurensuche in der Vergangenheit. Nach dieser besonderen Schwarzweißfilm-Atmosphäre mit scheinbar unentwegt wabernden Nebelfäden. Süchtig schließlich nach diesem melancholischen Flanieren durch Paris. Schon auf den ersten 20 Seiten sind zwölf unterschiedliche Straßennamen genannt, die Rue Vaugelas und die Rue de la Convention werden gleich mehrfach erwähnt. Es sind Patrick Modianos Straßen der Erinnerung, die uns von der vielfach preisgekrönten Übersetzerin Elisabeth Edl abermals vortrefflich erschlossen werden.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog findet sich auch eine Besprechung des zuletzt erschienenen Romans von Patrick Modiano, „Schlafende Erinnerungen“ von 2018, und zwar HIER .

Patrick Modiano: „Unsichtbare Tinte“, dt. von Elisabeth Edl, Hanser, 144 Seiten, 19 Euro. E-Book: 14,99 Euro.

2 Gedanken zu “Auf der Suche nach Noëlle: Nobelpreisträger Patrick Modiano flaniert in „Unsichtbare Tinte“ erneut durch die Erinnerung

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