
Die ersten Zeilen des Romans „Der Tod in ihren Händen“ stehen auf einem Zettel. Beim Spaziergang mit ihrem Hund Charlie entdeckt Vesta Guhl (72) das Blatt Papier auf dem Waldboden. Vier knappe Sätze stehen darauf: „Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“ Vesta blickt sich um auf dem Weg. Wird sie womöglich beobachtet? Treibt hier jemand seinen Spaß mit ihr? Was soll das?
Der Zettel ist der Treibstoff für ein Psychodrama des sanften Gruselns. Vesta zitiert die aufgefundenen Sätze wie ein Mantra ein ums andere Mal. Macht sich ihre Gedanken, stellt Nachforschungen an, lässt ihre Phantasie sprudeln. Wer war Magda? Wer hat sie ermordet? Denn daran kann für sie kein Zweifel bestehen: Hier ist ein Mord geschehen – wenn auch vorerst noch ohne Leiche. Das Kopfkino läuft heiß.
Atemnot im Kiefernwald
Die Frau lebt alleine. Nicht einmal ein Telefon besitzt sie. Wozu auch. Es gibt ja niemanden, den sie anrufen könnte. Sie ist in das amerikanische Provinznest Levant gezogen, nachdem ihr Mann Walter an Krebs gestorben war. Hier wohnt sie isoliert am Ortsrand mit ihrem Hund. Das Anwesen, das aus einem mutmaßlich obskuren Grund günstig zu haben war, ist umgeben von einem Wald aus Weymouthkiefern. Geht sie tiefer hinein, bekommt sie Atemnot, womöglich eine allergische Reaktion. Deshalb entscheidet sie sich, wenn sie ihren Hund ausführt, für den Birkenwald jenseits der Straße.
Vestas Tagesablauf ist von deprimierender Ödnis. Aber sie beklagt sich nicht. Jeden Tag schreibt sie eine neue To-Do-Liste, nachdem sie diejenige vom Vortag durchgestrichen hat. Der Text bleibt allerdings immer gleich. Kontakte pflegt sie nicht. Aber sie lauscht im Radio den Tröstungen von Pastor Jimmy. Sie sagt, dass ihr nicht langweilig sei. Das glaubt man sogar – jetzt, wo es den Mord vor ihrer Haustüre gegeben hat.
Vesta fühlt wie Magda
Vesta hat sofort bemerkt, dass der mysteriöse Text auf dem Zettel das Zeug zu einem Buch hätte: „Mit etwas Disziplin könnte ich das Buch selbst schreiben – wenn ich der Meinung wäre, dass es jemand lesen will.“ Immerhin hat sie viele Krimis gesehen. Sie kennt sich also aus. Außerdem hat sie im Internet – bei einem Besuch in der Stadtbibliothek – eine Seite mit Tipps zum Krimischreiben gefunden. Allerdings – hier geht es nicht um Fiktion. Vesta glaubt tatsächlich, dass Magda ermordet worden ist. Schon der Name Magda! So einen denkt man sich doch nicht aus. Bald schon hat sie sich ein Bild von Magda gemacht, in dem sich ihr eigenes Leben spiegelt: „Arme Magda, es muss schwer gewesen sein, sich an das neue Leben zu gewöhnen. Ich fühlte mich ihr sehr nah.“
Im Laufe ihrer Recherchen gibt sie einiges preis aus ihrer eigenen Vita. Zumal aus ihrer Ehe mit dem Hochschullehrer Walter, der aus Deutschland stammte und sie andauernd bevormundet hat. Und mit „seinen“ Studentinnen hat er sie betrogen. Kein sympathischer Typ, gewiss nicht. Schon gar nicht, „wenn er sich besonders deutsch verhielt.“ Aber auch Vesta ist nicht der reine Engel. Ihre Urteile über die Menschen in Levant sind alles andere als subtil. Eher boshaft. Von einigen nimmt sie an, dass sie in den Fall Magda verwickelt sind. Und einen Namen für den Täter legt sie fest – Blake. Wie der Dichter William Blake, der auch vorkommt.
Die Einsamkeit der Außenseiter
Ottesha Moshfegh, die 1981 in Boston geboren wurde und in Los Angeles lebt, lässt sich gerne auf Außenseiter ein. Davon zeugen die Romane und Erzählungen, die bislang auf Deutsch bei Liebeskind erschienen sind – zuletzt „Eileen“ und „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“. Nun tritt die vielgepriesene Autorin mit „Der Tod in ihren Händen“, den T. C. Boyle auf diesem Blog als „unwiderstehlich“ bezeichnet hat (siehe unten), bei Hanser Berlin an.
Ein Kammerspiel um Einsamkeit und Enttäuschung, Dichtung und Wahrheit, das wie ein Krimi daherkommt. Moshfegh platziert geschickt allerlei Genre-Elemente, die auch bei Agatha Christie vorkommen könnten. Nebelbänke schlieren durch die Seiten. Und ganz geheuer ist einem nicht mit Vesta als Ich-Erzählerin. Welchen ihrer Worte kann man trauen? Rätselhaft bleibt manches. So ist dies kein Kriminalroman nach altbekanntem Häkelmuster, bei dem am Ende alle Fragen beantwortet sind. Nicht einmal ein Krimi ist es – wenngleich die Spannung anhält bis zum Showdown im Kiefernwald. Danach liest man die ersten Zeilen dieses subtilen Romans gleich noch einmal.
Martin Oehlen
Ottessa Moshfegh: „Der Tod in ihren Händen“, dt. von Anke Caroline Burger, Hanser Berlin, 256 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

T. C. Boyle meint: „Eine unwiderstehliche Lektüre“

US Autor T. C. Boyle, dessen neuer Roman „Sprich mit mir“ soeben im Hanser-Verlag auf deutsch erschienen ist, hat Ottessa Mosheghs Roman auf unserem Blog vorgestellt. Im Rahmen der Advents-Empfehlungen hat er die Lektüre von „Der Tod in ihren Händen“ dringend empfohlen. Nachzulesen ist das HIER . Foto: Bücheratlas