
Paula Fürstenberg liest beim Viral-Literaturfest ihren Essay über den Zoo von Tiflis, den sie einmal besucht hat. Foto: Bücheratlas
Die Chancen, die Frühjahrs-Neuerscheinungen in Zeiten der Corona-Quarantäne publik zu machen, sind bescheiden. Dabei ist es für jede Neuerscheinung fatal, unter dem Radar zu fliegen. Statt des Ruhms bleibt da womöglich nur noch die Ramschtheke. Die Verlage reagieren landauf-landab. Fast allenthalben wird die anstehende Auslieferung zumindest teilweise in die wärmeren Monate verschoben. So teilte Suhrkamp in dieser Woche mit, seine für den April geplanten Titel zunächst nur als E-Books anzubieten und die Auslieferung der Hardcover in den Juni zu verschieben. Und am Donnerstag meldete der Piper-Verlag, dass er einige seiner Bücher nun erst im August anbieten werde.
Doch da gibt es ja so viele schöne Titel, die zuletzt erschienen sind oder die gerade jetzt und gerade heute erscheinen. Für sie legt sich die Buchszene von Tag zu Tag stärker ins Zeug. Zum einen posten Autoren, Verlage und Buchfreunde in den sozialen Medien eine Empfehlung nach der anderen. Das reicht vom Literarischen Colloquium in Berlin, das Video-Mitschnitte von Dichter-Auftritten aus dem Archiv holt, bis zu den Videos des Elif-Verlags aus Nettetal, welche den Lyrikerinnen und Lyrikern aus dem Programm gewidmet sind. Auch trägt Patti Smith regelmäßig Gedichte ihrer Favoriten vor, Sylvia Plath und Arthur Rimbaud inklusive, und es erläutert das Literaturhaus Zürich in Mini-Referaten jene Bücher, die programmgemäß auf der Bühne am Limmatquai hätten präsentiert werden sollen (nebst den vorbereiteten Fragen an die nicht angereisten Gäste). Und das sind nur ein paar Initiativen von sehr vielen.

Isabelle Vonlanthen vom Literaturhaus Zürich empfiehlt auf Facebook ein Buch von Hamed Abboud. Foto: Bücheratlas
Darüber hinaus und besonders animierend: Es werden immer mehr Live-Angebote eingestellt. Wenn der Autor nicht leibhaftig vor seine Leser treten kann, kommt er ihnen halt in einem Streaming entgegen. Sebastian Fitzek, Bestseller-Autor bei Droemer Knaur, sagte soeben im Live-Literatur-Talk des Berliner Boutique-Hotels „i 31“: „Wir werden in die Geschichte eingehen. Wir können sagen, wir sind dabeigewesen.“ Und er lässt nicht locker. Jetzt eröffnet er noch eine Schreibwerkstatt – an diesem Freitag um 19 Uhr soll es losgehen.
Das wird sowieso der Super-Friday der Online-Live-Literatur, dieser 27. März 2020. Warum Super Friday? Das erschließt sich sogleich.

Sebastian Fitzek (unten) im Netz-Gespräch mit Gastgeber Zeèv Rosenberg (oben) vom Berliner Hotel „i31“ Foto: Bücheratlas
Eine formidable Gelegenheit, die junge deutschsprachige Literaturlandschaft zu besichtigen, findet sich nahezu allabendlich bei „Viral“, dem Online-Literaturfestival der Literaturzeitschrift „Glitter“. Ja, es stimmt: Wir haben schon zweimal darauf hingewiesen – und zwar erstens HIER und zweitens HIER. Aber es bleibt eben ein erfrischendes Angebot. Das sagen wir auch gerade jetzt, da wir Paula Fürstenberg im Eisbärkostüm gesehen haben – nein, kein Schafskostüm, „achtet auf die Ohren“! Das Outfit hatte selbstverständlich einen tieferen Grund: Die Autorin, deren Debüt-Roman „Familie der geflügelten Tiger“ bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist, las einen Essay über den Zoo von Tiflis. An diesem Freitag, es ist immer noch vom 27. März 2020 die Rede, gibt es vier weitere Auftritte zwischen 19 und 21 Uhr.
Ja, es ist noch so viel mehr im Live-Modus zu erleben. Auf Facebook und auf YouTube liest Gerd Köster weiterhin aus seiner, also aus „Qösters Quarantäne“, auch an diesem Freitag um 19 Uhr. Und Karla Paul setzt ebenfalls ihre nachmittägliche Gesprächsreihe auf Instagram Live fort – um 14 Uhr steht Pierre Jarawan mit seinem frischen Roman „Ein Lied für die Vermissten“ auf dem Plan.
Begonnen hatte Karla Paul zu Wochenbeginn mit Mario Giordano, der bei der Premiere meinte, man könne das Netz auch mal in Ruhe lassen. Allerdings ist er derzeit besonders aktiv. An diesem Super Friday stellt er seinen neuen Roman „Tante Poldi und der Gesang der Sirenen“ (Bastei Lübbe) gleich zweimal im Livestream vor – um 19 Uhr auf Facebook und um 20 Uhr auf Instagram (mit unterschiedlichen Auszügen). Sein Corona-Motto: „Love, Peace, Namaste, leckmidochamarschdukackvirus.“
Ja, um 19 Uhr wird es sich knubbeln in Netz. Denn zu dieser Stunde bittet auch der Deutsche Taschenbuch-Verlag zur Live-Lesung: Artur Dziuk sagt, was er über seinen Roman „Das Ting“ sagen möchte. Und schon eine halbe Stunde später tritt Carsten Henn zur Premierenlesung seines Kriminalromans „Der Gin des Lebens“ an, der im DuMont Buchverlag erscheint.
Der Diogenes-Verlag schickt gleich mehrere seiner Autoren ins tägliche Live-Geschehen. Thomas Meyer war sehr früh mit einer ersten „Lockdown-Lesung“ auf Sendung: „Oh, ich bin live. Guten Abend! Thomas Meyer ist wieder hier!“ Auf Periscope teilte er mit, dass ihm viele Lesungen weggebrochen seien – und liest dann los. Aus „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“, dessen heiterer Ton durch Meyers schalkhaften Vortragsstil noch befördert wird. Und dann aus dem 99 Kolumnen zählenden Band „Meyer rät“ (Beobachter-Verlag), worin er Fragen wie diese beantwortet: „Wann weiß man, dass eine Beziehung nicht mehr zu retten ist?“

Doris Dörries veganes Gummibärchen soll die Erinnerung kitzeln. Foto: Bücheratlas
Mit Doris Dörrie kann man was lernen. Mit allen anderen auch. Aber Dörrie hat es sich auf ihre Fahnen geschrieben. So gibt sie in ihren „Morning Pages“ Schreibtipps. „Jetzt, wo wir so abgeschnitten sind von äußeren Einflüssen“, sei es eine gute Zeit, um einmal nachzuschauen, „was wir alles in uns tragen, was wir alles so abgespeichert haben auf dieser riesigen Festplatte, die wir Gehirn nennen.“ Das sei eine Schatzkiste. Sie empfiehlt, mit allen fünf Sinnen aufzuschreiben, woran man sich erinnere. Kleine Auslöser könnten helfen. Schon legt sie ein Gummibärchen aufs Papier – „ein vorbildlich veganes Gummibärchen“. Dann sagt sie ihr Mantra auf: „Ich erinnere mich an Gummibärchen. Gummibärchen, Gummibärchen!“

Katrine Engberg freut sich über die Kommentare ihrer Instagram-Zuschauer. Foto: Bücheratlas
Katrine Engberg liest nicht nur, sondern zeigt uns zudem ihr Kopenhagener Arbeitszimmer, das sie sich aktuell mit ihrem Sohn teilt, der dort seinen Schulersatz-Platz gefunden hat. Da fühlt man sich geradezu als Gast willkommen. Eindrucksvoll der Schreibtischstuhl des Vaters, der zu ihrem Stuhl geworden ist, und dann vor allem die gelb-grün-blau-orangene Zettelwand, auf der ihr nächster Roman geklebt ist. Für Skandinavisten: Auf Dänisch ist sie derzeit täglich zu erleben. Eine Bücheratlas-Besprechung ihres aktuellen Kriminalromans „Glasflügel“ findet sich HIER.
So wird es eine Weile weitergehen. Weil es eine so schöne Ankündigung ist, greifen wir diesen Termin noch auf: Guy Helminger, der Luxemburger Autor in Köln, will am 7. April um 20 Uhr seinen Lyrik-Band „Die Tagebücher der Tannen“ (Edition Rugerup) vorstellen. Dann werde er sich vermutlich auch auf die Frage einlassen, heißt es im schönsten Letzeburgisch, „firwat Gedichter esou wichteg sinn“ – und zwar nicht nur in „Corona-Zäiten“.
Diese Zeiten sind schwierig. Aber sie bieten auch neue Blüten. Und wer weiß, was davon alles in die Post-Virus-Ära gerettet werden kann. Auf den Modernisierungsschub darf man gespannt sein. Es ist was los im Literaturnetz.
Martin Oehlen
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Wer nun die eine oder andere Neuerscheinung erwerben will, der ist beim lokalen Buchhändler bestens aufgehoben. Nicht vergessen – sehr viele Buchhändlerinnen und Buchhändler liefern frei Haus. Der deutsche Buchhandel ist einzigartig – das soll er auch bleiben.
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