Es geht auch so. Ein bisschen jedenfalls. Wenn Literaturfreunde nicht zu Literaturveranstaltungen gehen können, kommen die Lesungen und Gespräche halt ins Haus. Netz sei Dank!
An dieser Stelle haben wir schon auf die „Viral“-Lesungen auf Facebook hingewiesen – und zwar HIER. Eine formidable Gelegenheit ist das, die junge deutschsprachige Literaturlandschaft zu besichtigen. Das Informelle der Auftritte ist dabei der Bonus-Teil zum Literarischen – wenn etwa in der fünften Ausgabe Miku Sophie Kühmel die Lesung aus ihrem Roman „Kintsugi“ (S. Fischer) unterbricht, weil ihr Mitbewohner nebenan zu laut telefoniert und sie die Türe schließen muss: „Ruhe im Karton!“ Ihrer Kollegin Anna Ospelt aus Vaduz ergeht es nicht besser. Auch sie tritt noch einmal aus dem Bild, um die Türe zu schließen, weil ihr Freund irgendwie ablenkend tätig ist. Dann klingelt gegen Ende auch noch das Telefon. Festnetz – da muss sie hin, das hört nicht auf.
Allemal sind das lohnende Auftritte. Da schaue man nur auf Anna Ospelt. Ihr Roman „Wurzelstudien“ ist erst vor einem Monat im Limmat-Verlag erschienen, da kann er jeden Auftritt gebrauchen. Doch jetzt sind – verständlicherweise, wie auch sie betont – „alle Lesungen den Bach herunter“. Jedenfalls die vor einem Publikum im Saale. Das Netz schaut schon ein bisschen zu.
Und das ist noch längst nicht alles.
Auf Facebook und auf YouTube ist seit Samstag „Qösters Quarantäne“ zu erleben. Gerd Köster, Schauspieler und Sänger und bewährter Vorleser aus Köln, bittet unter diesem Titel zu kurzen Hauslesungen. Zum Start gab es einen Brief von Keith Richards an dessen Tante Pattie, in dem er von Chuck Berry & Co. schwärmt. Weiter geht es um Mick Jagger, mit dem er jetzt Musik mache und der „der größte RnB-Sänger auf dieser Atlantikseite“ sei – „und das meine ich ernsthaft.“
Der nächste Abend bot eine kölsche Hymne aufs „Päädsfleisch“. Aus Nudeln mache er sich halt nichts, sagte Gerd „Quöster“ Köster. Deshalb sei er froh, dass der Pferdefleisch-Verkäufer weiterhin auf dem Markt in der Kölner Südstadt anzutreffen sei. Gleichwohl kündigte er an, demnächst auch mal einen Text für Vegetarier ins Auge zu fasen. Kösters schönes Motto zur Sandmännchen-Zeit um 19 Uhr: „Bleibt gesund und senkrecht!“
Karla Paul ist an diesem Montag gestartet. Ihr Motto: „Zusammen ist man weniger allein!“ So will sie nun jeden Nachmittag „jemand Spannendes auf Instagram“ einladen. Eine Stunde lang von Montag bis Freitag von 14 bis 15 Uhr auf IG Live. Gibt’s nur, wenn ich das richtig sehe, auf dem Handy, also nicht auf dem PC.
Den Start machte Mario Giordano – im Laufe der Woche folgen Anne Siegel, Ali Mahlodji, Katharina Schulze und Pierre Jarawan. Die Premiere? Geglückt. Sie war frisch, substanziell, angenehm in der Gesprächstonlage, nicht hektisch und nicht geschwätzig. Giordano, vor allem bekannt als Schöpfer von „Tante Poldi“, hatte natürlich etwas zu sagen zur Isolationslage in der Welt. Da gab es das berechtigte Loblied auf den Buchhandel, der trotz verschlossener Türen weiter ausliefert. Und Giordano empfahl, das Netz auch einmal ruhen zu lassen, überhaupt alles ruhen zu lassen, um sich hinzusetzen und so lange jeden Gedanken aufzuschreiben, der einem durch den Kopf schwirre, ausdrücklich „auch jeden Kack“, bis man nicht mehr könne.
Um 15.02 Uhr sagte der Autor dann „Namaste!“ und schloss die Frage an: „Wie kommen wir jetzt raus aus der Nummer?“ Die Interviewerin wusste Rat: „Warte mal …“ – und schon verschwand das letzte Bild im Nirgendwo.
Es ist also was los im Literaturnetz. Wer sich auf die Suche macht nach weiteren Quarantäne-Initiativen, wird sicher fündig werden.
Martin Oehlen